Sebastianus war noch vor Beginn der Rebellion nach Skythien zurückgekehrt. Die Truppen waren in Alarmbereitschaft versetzt worden, und es wurden Vorbereitungen getroffen, sie mit anderen kaiserlichen Streitkräften zu vereinigen – doch dann passierte gar nichts. Sebastianus hatte nicht genug Soldaten, um dieser riesigen gotischen Armee auf eigene Faust entgegenzutreten. Er sandte Botschaften an den Kaiser – schickte sie, um sicher zu gehen, per Schiff – und fragte, was er tun sollte.
Thorion sandte ebenfalls Botschaften, einige an den Kaiser und einige an mich. »Komm sofort nach Tomis zurück«, schrieb er.
»Ich schicke dich, Melissa und das Baby nach Konstantinopel. Eine Provinz, die sich im Krieg befindet, ist kein Ort für Frauen.«
»In jeder Provinz und während jeden Krieges gibt es einen Haufen Frauen«, schrieb ich zurück. »Und außerdem bin ich für dieses Hospital verantwortlich: Ich kann meine Patienten nicht einfach im Stich lassen. Mach dir keine Sorgen. Hier in Novidunum bin ich ebenso sicher wie du in Tomis.«
Ich schickte den Brief mit dem offiziellen Kurier. Dann kletterte ich auf die Festungsmauer und sah zu, wie der Mann über die Felder davon ritt. Alles war inzwischen weiß vom ersten Schnee. Der Himmel über dem Delta war grau und schien bersten zu wollen; nur am Horizont leuchtete er und war von jener eigenartigen Helligkeit, die die Luft über dem Meer auszeichnet. Der Kurier bewegte sich über die weiße Fläche des Schnees vorwärts, ritt unter den schweren Wolken hinweg, eine winzige schwarze Ameise, die über eine riesige Staubfläche krabbelt. Sonst rührte sich nichts. Ich blickte zum Delta hinüber, dann schritt ich langsam auf der Festungsmauer entlang. Rauch aus ein paar Häusern in östlicher Richtung; Kühe auf einem Feld; eine Frau, die Holz sammelte. Dann die unermeßlichen braunen Fluten des Flusses, die in der kalten Luft dampften und sich der Helligkeit des weit entfernten, unsichtbaren Meeres entgegenwälzten. Dahinter, am anderen Flußufer, waren die Wälle des verlassenen gotischen Lagers gerade noch zu erkennen, dann weitere Felder und Wälder: Nichts rührte sich, kein Leben. Dort waren keine Goten. Vielleicht drängten dort schon bald andere Barbaren nach Alanen, Hunnen. Ich schloß die Augen und dachte an das Imperium, einen Ring von Städten um das Mittelmeer herum, eine Kette, die sich bis zum Schwarzen Meer erstreckte, den Nil hinauf bis in die Wildnis des Binnenlandes, von dem weit entfernten Britannien bis zur persischen Grenze, vom Rhein und von der Donau bis weit in den Süden hinunter, bis zu den Wüsten Afrikas und den Landstrichen Äthiopiens. Alexandria mit seinem Leuchtturm. Caesares, Tyrus, das kaiserliche Antiochia, Rhodos, Ephesus, meine Heimatstadt, mit ihrem herrlichen Tempel der Göttin Artemis. Das strahlende Konstantinopel. Athen, unser aller Mutter und nach wie vor eine Stadt des Lernens, selbst heute noch inmitten ihres lang anhaltenden Niedergangs. Und die Städte des Westreichs, die ich nur aus Berichten kannte: Rom, Carthago, Massilia und weiter entfernt liegende Hauptstädte im Innern wie Treviri und Mediolanum. Die Völker Britanniens, Galliens, Afrikas, Ägyptens, Syriens, Asiens: ein Durcheinander unterschiedlicher Sprachen, unterschiedlicher Vergangenheiten, Religionen, Rassen. Ein Kaiserreich, zwei Sprachen und beinahe tausend Jahre Zivilisation. Zum erstenmal in meinem Leben versuchte ich – wie ich da auf den Festungswällen von Novidunum stand –, mir ein Leben ohne das römische Imperium vorzustellen, und zum erstenmal verstand ich, warum Athanaric es so liebte.
Ich kletterte von den Mauern herunter und machte mich an meine Arbeit im Hospital. Mir hätte schon vorher klar sein müssen, daß ich auf Gedeih und Verderb eine Kreatur des Kaiserreichs war, von ihm geformt durch meine Erziehung, genährt mit seinem Wissen, geprägt durch seine Ordnung. Doch Ephesus ist eine alte Stadt, man hält ungewöhnliche Dinge für ganz normal und sieht einen Zustand für ganz natürlich an, der in Wirklichkeit ein mühsam erworbenes Privileg darstellt. Es war mir immer als selbstverständlich erschienen, daß nur Soldaten Waffen trugen, daß die Gesetze überall die gleichen waren, daß die Menschen sich – unabhängig von irgendwelchen örtlichen Verwaltungsbeamten – von ihren Berufen ernähren konnten, daß man Waren kaufen konnte aus Orten, die Tausende von Meilen entfernt lagen. Aber all dies hatte seine Wurzeln im Kaiserreich, das das Gefüge der Welt zusammenhält, so wie Atlas angeblich den Himmel hält. Und all das war den Goten fremd. Ich hatte die kaiserlichen Behörden bisweilen wegen ihrer Bestechlichkeit, ihrer Brutalität, ihrer Gier, mit der sie die gesamte Macht der Welt für sich beanspruchten, gehaßt. Doch jetzt, da die kaiserliche Regierung in Thrazien herausgefordert war, fühlte ich mich ganz und gar als Römer. Was ich in dieser Lage tun konnte, um dem Staat zu dienen, würde ich tun. Andere mochten ihren Posten verlassen; ich war entschlossen, den meinen nicht zu verlassen.
In der nächsten Woche kam Sebastianus durch Novidunum, um die Truppen auf seinem Weg flußaufwärts zu inspizieren. Ich erstattete ihm über den Gesundheitszustand der Legionen Bericht und meldete ihm Edicos Überlaufen zu den Goten. Da ich dadurch in Bedrängnis geraten war, bat ich Sebastianus um zwei Dinge: erstens um die Beförderung des Intelligentesten der Pfleger des Hospitals zum Arzt und zweitens um die offizielle Freilassung Arbetios. Außerdem sollte er ihm eine mit einem regulären Sold ausgestattete Position verschaffen. Um letzteres hatte ich bereits mehrmals gebeten, aber bei dieser Gelegenheit verlieh ich dieser Forderung größeren Nachdruck. Ich wollte nicht, daß mein anderer Assistent ebenfalls verschwand, und ich hielt es für ziemlich wahrscheinlich, daß Edico ihm die Freiheit versprochen hatte, falls er sich den Goten anschlösse. Sebastianus akzeptierte meinen Standpunkt und wischte die Angelegenheit nicht, wie vorher immer, beiseite. Er ließ seinen Schreiber auf der Stelle die Dokumente ausfertigen, rief Arbetio zu sich und sagte ihm, er sei ein freier Mann. Arbetio starrte ihn an, und Sebastianus händigte ihm den Vertrag eines Armeearztes zur Unterschrift aus. Arbetio war wie betäubt. Als er unterschrieb, zitterte seine Hand. Sebastianus ergriff sie und schüttelte sie. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Arbetio den Vertrag an. Ich trat auf ihn zu und streckte ihm meine Hand ebenfalls entgegen; er ergriff sie, dann blickte er mir ins Gesicht und umarmte mich. »Danke dir«, sagte er. »Ich finde keine Worte. Ich wäre zu sterben bereit, um dir richtig zu danken.«
Sebastianus lachte. »Du hast recht, dem Urheber deiner Freiheit zu danken und nicht so sehr dem Vollstrecker.« Und er bat uns beide, beim Abendessen seine Gäste zu sein.
Als wir abends beisammen saßen, fragte ich Arbetio, ob er mein Haus übernehmen wolle. »Ich möchte es sowieso loswerden. Du kannst es bezahlen, wenn du die Summe beisammen hast.«