Der größte Teil der skythischen Bevölkerung strömte in die befestigten Städte, vor allem nach Tomis und Histria, in einem geringeren Ausmaß aber auch in die Armeelager wie Novidunum. Dank Thorions gehorteter Getreidevorräte gab es in den Städten für jedermann genug zu essen; trotzdem richtete Thorion rasch ein Rationierungssystem ein. Genaues wußten wir allerdings nicht, denn die Verbindungen zur Außenwelt waren unterbrochen. Wegen der Goten war es nicht immer sicher, Botschaften über Land zu schicken, die Donau war inzwischen zugefroren, und mitten im Winter hatte kein Kapitän den Mut, es mit dem Schwarzen Meer aufzunehmen. Wann immer Soldaten längs des Ufers flußaufwärts oder flußabwärts ritten, wurden sie von Kurieren begleitet. Trotzdem konnte man viele Wochen lang meinen, Novidunum sei die einzige Stadt auf der Welt, ganz allein inmitten des Schnees auf dem Steilufer thronend. Gelegentlich kam ein Trupp Soldaten flußabwärts geritten und lud hastig ein paar Verwundete im Hospital ab, doch vom Meer her kam vom Dezember bis zum Frühjahr niemand.
Trotz der im Lager herrschenden Ruhe waren wir im Hospital ziemlich beschäftigt. Neben den Verwundeten unserer eigenen Legion mußten wir Versprengte aus Mösien, die desertiert oder vor den Goten geflohen waren, versorgen; dazu kamen noch kranke oder verletzte Bauern, die sich nach Novidunum geflüchtet hatten. Ich machte mir Sorgen wegen unserer Vorräte an Arzneimitteln, stritt mich mit Valerius um Geld für zusätzliche Vorräte, setzte ihm zu, mir noch ein paar weitere Pfleger zu genehmigen, und stritt mich anschließend mit ihnen herum.
Arbetio setzte sich auf eine geradezu bewundernswerte Weise ein und war dabei stets bester Laune. Ich war in das neue, größere Haus umgezogen und hatte ihm das alte überlassen. Er hatte sich fünfzehn Solidi geliehen und seine Freundin freigekauft, um mit ihr zusammenleben zu können. Sie war eine kleine, pummelige junge Frau namens Irene, eine von Valerius’ Köchinnen, und Arbetio war offensichtlich schon seit Jahren in sie verliebt. Nachdem er sie freigelassen hatte, ließen sie sich als Mann und Frau nieder, und alle beide waren außer sich vor Glück.
Ende Februar schickte Sebastianus mir einen Brief und bat mich, flußaufwärts in das Lager Ad Salices, »zu den Weiden«, in der Nähe der mösischen Grenze zu kommen. Einer seiner Trupps, die einen Ausfall gewagt hatten, war von den Goten aufgerieben worden, und es war einfacher, mich zur Behandlung der Verwundeten dorthin zu bringen, als sie alle ins Hospital nach Novidunum hinunterzuschicken. Ich packte einen ordentlichen Vorrat an Heilmitteln zusammen und machte mich mit einer Begleitmannschaft von zwölf Reitern auf den Weg. In der Woche zuvor hatte es getaut, inzwischen war jedoch alles wieder gefroren. Als wir das Lagertor passierten, schneite es heftig, das Tauwetter hatte jedoch eine Eisschicht auf dem darunterliegenden Schnee verursacht, die in die Beine der Pferde schnitt. Plötzlich fiel das Pferd eines Soldaten der Begleitmannschaft auf ihn, so daß er sich das Schlüsselbein brach. Ich mußte ihn behandeln und nach Novidunum zurückschicken. Zu allem Unglück hatte nach unserem Aufbruch auch noch meine Regel eingesetzt, und es war eine heikle Angelegenheit, diese Tatsache zu verbergen: Zumindest war es äußerst lästig, unter diesen Umständen zu reisen.
Nachdem wir drei Tage unter derart widrigen Bedingungen geritten waren, erreichten wir den Kamm eines Berges und sahen Salices unter uns liegen: Seine Wälle hoben sich dunkel gegen den Schnee und den zugefrorenen Fluß ab. Meine Begleitmannschaft stieß einen übermütigen Hurraruf aus, und wir machten uns auf den Weg hügelabwärts. Der Tribun, der die Soldaten befehligte, richtete sich in seinem Sattel auf und winkte mit beiden Armen zur Festung hinüber – dann krümmte er sich zur Seite und fiel vom Pferd. Ich fragte mich, was das bedeuten sollte, doch dann war ich plötzlich nahe genug bei ihm und sah ihn genauer. Seine eine Schädelhälfte war eingeschlagen: Sie war offensichtlich durch eine aus einer Schleuder abgeschossene Bleikugel wie eine Nuß geknackt worden.
Die anderen entdeckten es im gleichen Moment; die Beifallrufe blieben ihnen im Halse stecken, und sie begannen, ihre Pferde in gestrecktem Galopp den Hügel hinunterzujagen. Dabei rissen sie ihre Schilder vom Rücken und hielten sie sich über die Köpfe. Ein weiterer Mann sank zu Boden. Ich hatte keinen Schild. Und so beugte ich meinen Kopf tief über den Hals meines Pferdes und trieb es mit kräftigen Fußtritten an. Es war müde, doch es hatte den Geruch von Blut und von Angst geschnuppert und galoppierte hinter den anderen her. Ich hörte, wie etwas über meinen Kopf hinwegpfiff, und betete verzweifelt zu Gott und zu Jesus Christus, sie möchten mich beschützen. Zu meiner Rechten stolperte ein Pferd und brach zusammen; sein Reiter schrie vor Schmerz; dann sprang er auf und schwang sein Schwert. Ich konnte nicht anhalten, um ihm zu helfen, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich schloß die Augen. Mein Pferd stolperte und bäumte sich auf; ich öffnete die Augen wieder und versuchte, es im Gleichgewicht zu halten. Vor mir hatte die Begleitmannschaft in einem Halbkreis Aufstellung genommen und sich den vom Rücken her Angreifenden zugewandt. Ich zügelte mein Pferd und fragte mich, was sie vorhatten. Diese Wahnsinnigen wollten doch nicht etwa kämpfen? Doch die Männer hatten sich in einer Schlachtreihe aufgestellt, ihre Schwerter gezogen und die Schilder über ihre Köpfe erhoben. Ein Trupp Goten kam den Hügel heruntergerannt, ihre Pelzmäntel flatterten im Wind, das Licht der untergehenden Sonne funkelte auf ihren Speeren. Der Mann, der sein Pferd verloren hatte, stieß einen Schlachtruf aus – diesen Schrei, der leise beginnt und in einem heiseren Brüllen endet –, und die Goten stürzten sich auf ihn. Weitere Barbaren tauchten zwischen den Bäumen auf. Der römische Soldat fiel, und sein Feind durchbohrte seinen Körper wieder und wieder, wobei er ein wildes Gebrüll und durchdringende Wutschreie ausstieß. Dann stürzte er sich auf uns. Hinter mir hörte ich den Klang von Trompeten.
»Warum können wir uns denn nicht zur Festung durchschlagen?« fragte ich den Soldaten vor mir.
Der Soldat schnaubte verächtlich. »Der Feind würde uns töten, wenn wir zu fliehen versuchen. Wir können uns den Rücken nicht freihalten. So aber haben wir eine Chance. Hurra!«
Ich fühlte mich schrecklich schutzlos. Die anderen Soldaten befanden sich zwar vor mir, aber sie hatten Helme und Schilder und Harnische; ich jedoch hatte nichts als meinen Pelzumhang und meine Arzttasche. Ich beugte mich tief auf das Pferd hinunter, preßte die Tasche an mich und dachte über Knochenbrüche, Behandlungen von Kopfverletzungen, Wundkompressen, Amputationen und die richtige Dosierung von Alraunwurzeln nach. Vielleicht, dachte ich, sollte ich jetzt etwas davon nehmen, dann hätte ich nicht solche Schmerzen zu befürchten, wenn ich getroffen würde. Die Barbaren kamen schreiend näher. Die Soldaten meiner Begleitmannschaft empfingen sie mit einem Speerhagel, und einer der Feinde fiel. Hinter uns – inzwischen etwas näher – erklang von neuem die Trompete. Die Soldaten stießen wieder ihren Kriegsruf aus und stürmten gegen den Feind vor. Ich rührte mich nicht, saß einfach nur da und klammerte mich an meine Arzttasche. Einige Goten fielen; die übrigen wichen zurück, hügelaufwärts. Die römischen Soldaten verfolgten sie jedoch nicht, sondern machten kehrt und sammelten sich. Ein Geschoßhagel folgte ihnen; ein weiterer Mann fiel, versuchte sich aufzurichten, sank zurück. Unsere Soldaten wollten sich gerade wieder auf den Feind stürzen, da hörten wir das Donnern von Hufen hinter uns: Eine Reiterschwadron aus der Festung kam uns zu Hilfe. Ich wandte mein Pferd um, um mich ihnen anzuschließen, aber ein Schreckensruf entfuhr mir: Hinter unserer Schwadron tauchten weitere Barbaren auf; ein berittener Trupp Goten verfolgte unsere Helfer.
Der Befehlshaber der römischen Streitkräfte entdeckte sie ebenfalls und rief seinen Männern zu, sie sollten eine Keilformation bilden. Überall wimmelte es jetzt von Pferden und bewaffneten Männern; die Soldaten meiner Begleitmannschaft machten eine plötzliche Drehung, um mit den Neuankömmlingen einen gemeinsamen Keil zu bilden. Speere blitzten im Licht der untergehenden Sonne. Weitere Trompeten; weitere Soldaten, die aus Salices strömten, diesmal zu Fuß. Lautes Rufen und allgemeine Verwirrung. »Du bist Chariton der Arzt?« fragte der Befehlshaber der Reiterschwadron. »Geh in die Mitte hinter der Keilformation.« Ich ritt dorthin, und der Keil begann sich auf die Festung zuzubewegen. Die gotischen Reiter teilten sich in zwei Gruppen auf, vollführten eine Schwenkung und ritten jetzt zu beiden Seiten von uns. Hinter uns strömten die Barbaren, die mir und meiner Begleitmannschaft den Hinterhalt gelegt hatten, hügelabwärts. »Bei der unbesiegten Sonne!« rief unser Befehlshaber. »Halt! Halt! Bildet einen Kreis! Hebt eure Schilder und haltet die Stellung!« Und etwas ruhiger zu sich selbst: »Mein Gott, wir sitzen ganz schön in der Klemme!«