»Schätzt ihn der Heerführer mehr als dich und all deine Männer?« fragte der Gote. »Wir können den Waffenstillstand jederzeit widerrufen. Kämpf doch gegen uns, wenn du willst. Der edle Frithigern hat diesen Arzt als einen der Männer erwähnt, die er unbedingt in seine Dienste stellen möchte. Ich werde ihn zu ihm bringen, und wenn ich dazu einige Römer töten muß.«
Mühsam kam ich auf die Beine und fühlte mich sehr klein. Außerdem war mir kalt. Der Tribun saß auf seinem Pferd und blickte auf mich herunter. Dann sah er den gotischen Befehlshaber an, die gotischen Soldaten und seine eigenen Männer. Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid«, sagte er zu mir, »du wirst mit ihm gehen müssen.«
Mir war plötzlich zum Heulen zumute. Ich wußte, daß Frithigern mir nichts Böses antun würde, aber ich fühlte mich zutiefst den Römern zugehörig, empfand den verzweifelten Wunsch, zusammen mit Sebastianus und den Truppen in der Festung zu sein und nicht außerhalb mit all den Barbaren und dem vielen Schnee. Es war so, als hörte ich auf, zu existieren, wenn ich aller Menschen beraubt wäre, die mich kannten – so jedenfalls, als hörte ich auf, als Chariton zu existieren.
Doch zu weinen würde mir wenig helfen, und sowohl die Goten als auch die Römer würden nur verächtlich die Nase rümpfen. »Also schön«, sagte ich zu dem Tribun. Der gotische Soldat hielt immer noch mein Pferd fest; ich trat zu ihm und griff nach dem Sattel. Der Gote ließ die Zügel nicht los. »Richte Sebastianus aus, daß ich mich wie Iphigenie in Aulis fühle«, sagte ich zu dem Tribun und versuchte, meiner Stimme einen unbekümmerten Tonfall zu verleihen. »Sag ihm: Siegreiches Heil zu bringen dem Hellenenvolk, mach ich mich auf!‹ Er wird sich darüber freuen.«
Der Tribun blickte mich verständnislos an, nickte jedoch. »Es tut mir leid«, wiederholte er. »Vielleicht zahlt jemand Lösegeld für dich. Leb wohl, viel Glück.« Er wandte sein Pferd und ritt zu seinen eigenen Männern zurück. Die römischen Soldaten zogen an mir vorbei und verschwanden in der Dämmerung. Von den Festungstoren schimmerte der Schein vieler Lampen; vor den Wällen standen die Fußsoldaten zuhauf. Unterhalb der Lampen entdeckte ich einen goldenen Schimmer: Sebastianus’ vergoldeter Helmbusch, vielleicht auch seine Haare. »Fackelträger Tag und du, Lichtstrahl des Zeus! Ein andres Leben, ein andres Los tut sich uns leuchtend auf. Fahr wohl, du süßes Licht!« Ja, ich empfand Euripides’ Stück passend, selbst wenn Sebastianus anderer Meinung war.
Die Goten wendeten ihre Pferde und zogen das meine mit sich. Es war nicht länger aufzuschieben. Ich bestieg mein Pferd, und wir ritten in die Nacht hinein.
13
Die Goten hatten ihr Lager nicht weit von der Festung Salices aufgeschlagen, so daß wir nicht lange reiten mußten. Es war ein großes Lager – in dem sich achthundert Goten befanden. Zu ihrem Beutegut gehörten etwa hundert römische Gefangene. Der gotische Befehlshaber – er hieß Walimir – befahl mir, mich sofort an die Arbeit zu machen und die Verwundeten zu behandeln. Er war höflich und formulierte seinen Befehl wie eine Bitte, aber es handelte sich nichtsdestoweniger um einen Befehl. Es gab einen Haufen verwundeter Goten. Einige Wunden waren infiziert, vor allem, weil die Soldaten soviel von Adernpressen und von magischen Zaubermitteln hielten. Die römischen Gefangenen waren ebenfalls verwundet, außerdem hatten sie von Fesseln wundgeriebene Stellen.
Ich zog ein paar der Römer zur Mitarbeit heran, um Verbände und Reinigungslösungen herzurichten, aber ich brauchte bis zum Abend, um alle, die Hilfe nötig hatten, zu behandeln. Inzwischen war ich viel zu erschöpft, um einen Fluchtversuch zu machen. Walimir hatte mich nicht fesseln lassen, weil ich der Gastfreund des edlen Frithigern war, doch er befahl einigen seiner Reiter, mich zu bewachen. Ich bezweifle, daß ich weit gekommen wäre, selbst wenn ich bei Kräften gewesen wäre. Doch meine Wächter machten mir das Leben äußerst schwer. Es war umständlich genug gewesen, mein Geheimnis zu bewahren, solange ich mit den Römern über Land ritt und mich immerhin noch ein wenig zurückziehen konnte. Doch jetzt war ich keinen Augenblick mehr ungestört, und schon am Ende des ersten Tages war ich absolut ratlos. Ich konnte mich nicht waschen, und wenn ich eine Latrine benutzte, litt ich Folterqualen – die Goten waren äußerst neugierig und wollten unbedingt herausbekommen, was man so einem Eunuchen angetan hatte. Sie starrten mich unverwandt an, obwohl ich meine Tunika nicht hochhob.
Am nächsten Morgen brachen die Goten das Lager ab und machten sich auf den Weg zu Frithigern in seine Stadt aus Wagenburgen. Weiter östlich waren sie plündernd in das Landesinnere eingefallen; kleinere Trupps waren in den Norden vorgedrungen und von Sebastianus’ Soldaten abgeschnitten und aufgerieben worden. Der Tribun hatte recht gehabt: Der Überfall auf Salices war ein Rachefeldzug gewesen. Sie hatten außer Sichtweite gelagert und an der Versorgungsstraße des Lagers einen Hinterhalt gelegt, in der Hoffnung, ein paar Römer zu töten und sich dann wieder davonzumachen. Aber sie waren nicht unbedingt erpicht auf eine größere Schlacht gewesen, und jetzt wollten sie mit ihrer Beute möglichst schnell zu ihren Frauen und Familien zurückkehren. So marschierten wir in südwestliche Richtung, vorneweg ein Trupp Reiter, dann kamen die Fußsoldaten zusammen mit den Sklaven und den Wagen mit dem Beutegut, schließlich die Kühe und die restlichen Reiter, die langsam durch ein weißes, menschenleeres Land ritten.
Selbst bei unserem langsamen Tempo brauchten wir nur anderthalb Tage, um die Wagenburg zu erreichen – ich hatte mir nicht klargemacht, daß sie so nahe lag. Aus der Entfernung sah sie wie eine wirkliche Stadt mit hölzernen Wällen aus. Erst beim Näherkommen konnte man sehen, daß die Wälle aus einer endlosen Kette zusammengerückter und aneinandergebundener Wagen bestanden, an die man hölzerne Schanzpfähle befestigt hatte. Als wir näherkamen, ritten einige der Goten voraus, schrien und brüllten und schwenkten ein paar von den geplünderten Gegenständen. Andere Goten strömten aus der Stadt heraus und schrien ihrerseits. Kinder stapften durch den Schnee und rannten neben den Soldaten her, riefen ihnen Fragen zu, bewarfen die Gefangenen mit Schneebällen und beschimpften und verhöhnten sie. Einige rannten voraus, um einen Vater oder einen Bruder, einen Onkel oder einen Vetter zu begrüßen. Die Marschkolonne machte halt, lange bevor wir die Tore erreichten. Ich kauerte auf meinem Pferd und fühlte mich erbärmlich. Die Leute starrten mich an und zeigten mit den Fingern auf mich, obwohl niemand etwas nach mir warf.
Im Inneren der Stadt befanden sich weitere Wagen, die in unregelmäßigen, konzentrischen Kreisen angeordnet waren. Überall liefen Tiere und Menschen herum. Der Rauch von Kochfeuern mischte sich mit dem Gestank von Latrinen; Küken kratzten auf Dunghaufen, auf denen auch Kinder spielten; Frauen breiteten ihre Wäsche aus und hängten sie neben provisorischen Brunnen über Dornenhecken oder über Pferdetröge zum Trocknen auf. Ich fragte mich, wie viele Goten wohl inzwischen in Thrazien sein mochten. Es hatte den Anschein, als sei diese Wagenburg bei weitem größer als alle römischen Städte der Diözese.
Im Zentrum des Lagers stand ein Haus. Es war ein römisches Haus, eine große und prächtige Villa, mit einer Vorderseite aus Säulen, einem Ziegeldach und einem Badehaus. Als wir dort angekommen waren, stieg Walimir vom Pferd und bedeutete mir, das gleiche zu tun. Vor dem Haus standen in Bärenfelle gehüllte Wachen mit erbeuteten römischen Waffen. Zwei von ihnen traten auf uns zu und fragten Walimir, was er wolle.
»Wir haben einen Ausfall gemacht und sind gerade zurückgekommen«, verkündete dieser. »Ich habe eine Menge Beutegut und einen Haufen Gefangene gemacht; bei Salices habe ich viele Römer getötet und den berühmten Arzt und Zauberer Chariton gefangengenommen. Ich bringe ihn König Frithigern.«
Die Wachen sahen Walimir respektvoll an, mir warfen sie neugierige Blicke zu. Wir wurden in die Halle der Villa eingelassen, und einer der Wachsoldaten ging, um uns Frithigern zu melden. Er kam zurück und beglückwünschte Walimir im Namen Frithigerns, bat ihn jedoch, einen Augenblick zu warten, da der König noch einige Geschäfte zu erledigen habe. Wir warteten. Nach etwa einer halben Stunde betrat noch jemand den Warteraum, ein hochgewachsener Gote in einem hermelinbesetzten Umhang, und plötzlich erkannte ich in ihm meinen früheren Assistenten Edico.