Die Kindsmutter schien sich gut zu erholen. Ich verband die Wunde eigenhändig, dann schickte ich die Hebamme fort, um noch ein anderes Arzneimittel zu holen, das ich angeblich vergessen hatte. Sie ging los, und ich tat so, als hätte ich das Arzneimittel nun doch gefunden. Ich flößte der Frau etwas davon ein, dann trat ich ohne Begleitung ins Freie. Dort wartete Athanaric auf mich.
Ich eilte zu ihm; er ergriff meinen Arm und zog mich zur Seite. »Hier!« sagte er und deutete auf einen Platz unter dem nächststehenden Wagen. Ich kroch darunter, und er folgte mir. Wir waren außer Sicht und so allein, wie man in dieser übervölkerten Stadt nur sein konnte. »Wird die Frau zurückkommen?« fragte Athanaric.
»Ich habe sie fortgeschickt, um ein Arzneimittel zu holen«, antwortete ich. »Sie wird wahrscheinlich annehmen, daß sie mich auf dem Weg hierher verpaßt hat und zum Hospital zurückgehen. Wir haben etwa eine halbe Stunde Zeit, bevor sie anfangen, nach mir zu suchen.«
Athanaric seufzte und rieb sich die Stirn. »Werden sie denn nach dir suchen?«
»Sie haben gerade den strikten Befehl erhalten, mich ununterbrochen zu bewachen, damit ich nicht fliehen kann.«
»Aber du brauchtest gar nicht bewacht zu werden«, meinte er bitter. »Du kannst sowieso nicht fliehen. Im Augenblick jedenfalls nicht. Sämtliche Soldaten, die sonst auf den Beutezügen sind, befinden sich derzeit hier, und die Hälfte davon kennen mich, und allesamt scheinen sie dich zu kennen. Ich könnte dich niemals hier herausbekommen. Aber ich mußte unbedingt mit dir sprechen.«
Im Halbdunkel unter dem Wagen blickten seine Augen aufmerksam und ernst. Er sprach in seinem schnellen, abgehackten Griechisch, und er sprach mit gedämpfter Stimme, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich fühlte einen Kloß in meiner Kehle und schluckte angestrengt. »Schön, daß du gekommen bist«, flüsterte ich. »Ich brauche… ich fühle mich sehr alleine hier. Amalberga meint, ich sollte jemanden heiraten, um nicht als Geisel benutzt werden zu können.«
»Tu das nicht«, sagte Athanaric. »Sie würden es nicht wagen, dir etwas anzutun. Dein Bruder wird noch in diesem Herbst aus Tomis fortgehen; ihm ist für sofort eine andere Statthalterschaft angeboten worden, und zwar in Bithynien. Als Geisel nutzt du ihnen sowieso nichts. Würdest du wirklich jeden Goten töten, der versucht, dich zu heiraten?«
»Wahrscheinlich nicht«, räumte ich ein. »Aber ich will, daß sie es glauben. Ich will nicht, daß es jemand versucht.«
»Falls sie dir glauben, müßtest du eigentlich sicher sein. Sie haben wahrscheinlich keine Angst vor Messern, aber vor Gift fürchten sie sich. Dieser Krieg kann nicht ewig dauern, und irgendwie werden wir dich schon hier herausbekommen.«
Ich hatte mir selbst und auch anderen eingeredet, daß mich nichts mehr erwarte, falls ich zu den Römern zurückkehren könnte. Ich hatte nicht geglaubt, daß mein Herz bei dem Gedanken an Flucht wie rasend hämmern würde. Aber vielleicht lag es auch nur an Athanaric.
»Wie wird es weitergehen?« fragte ich ihn. »Glaubst du, daß der Krieg bald zu Ende ist? Kannst du einen Waffenstillstand aushandeln?«
Er schüttelte den Kopf. »Seit meiner Ankunft hier wollten mir alle klarmachen, was für einen Waffenstillstand ich aushandeln müsse. Aber ich bin nicht in offizieller Mission hier. Ich bin nach Ägypten versetzt worden und bin nur gekommen, weil jemand den Versuch machen mußte, dich auszulösen.«
»Nach Ägypten? Aber…«
»Sie trauen mir nicht mehr bei Hofe«, erklärte Athanaric und lächelte ein wenig unglücklich. »Ich habe mich seinerzeit zu sehr für Frithigern eingesetzt. Und sie mißtrauen inzwischen allmählich allen Goten. Mein Vater befindet sich praktisch unter Hausarrest. Aber der oberste Palastbeamte schätzt mich nach wie vor, und so behalte ich meinen Posten und meinen Rang, werde jedoch woandershin versetzt. Sie glauben bei Hof, daß ich in Ägypten, wo ich auf die Nachfolger deines alten Freundes Athanasios aufpasse, keinen Schaden anrichten kann. War es das, was der Bischof über dich herausgefunden hat? Daß du eine Frau bist?«
Ich nickte. »Wirst du etwa Ärger bekommen wegen dieses Ausfluges?«
»Falls ich jetzt schnurstracks nach Ägypten zurückkehre, keinen allzu großen. Sebastianus und dein Bruder können für mich bürgen. Außerdem brauchten sie mich unbedingt; es gab sonst niemanden, den sie in das gotische Lager zu schicken wagten.«
»Werden die Goten dich gehen lassen?«
»Oh, mach dir keine Sorgen deswegen. Auch Colias ist mein Vetter, und seine Männer haben ihre Befehle von meinem Vater entgegengenommen. Sie werden sich nicht mit mir anlegen wollen. Aber ich kann dich hier nicht rausschaffen. Ich habe die ganze Nacht wachgelegen und über eine Möglichkeit nachgedacht, aber bei den vielen Soldaten, die inzwischen hier versammelt sind, hat das überhaupt keinen Zweck. Die Festungsanlagen wimmeln vor Wachen, und ich soll bis heute abend verschwunden sein. Frithigern traut mir nicht und will nicht, daß ich länger bleibe. Du wirst ganz einfach tapfer sein müssen und warten. Ich habe mit einigen von Colias’ Männern gesprochen: Sie werden versuchen, dich zu beschützen, falls das Lager erobert wird. Ich wünschte nur, ich könnte mehr tun.«
»Dann werde ich eben warten«, meinte ich und versuchte, mich in mein Schicksal zu ergeben. »Zumindest habe ich genug Arbeit, um mich in Trab zu halten. Wie macht sich Arbetio in Novidunum?«
Athanaric sah mich einen Augenblick lang an, dann zuckte er die Achseln. »Ziemlich gut. Er hat noch eine Hilfskraft angeheuert. Die Soldaten meinen trotzdem, du seiest ein besserer Arzt. Was soll das heißen, daß du die Terwingen vor einer Epidemie bewahrt hast?«
»Ich habe sie dazu veranlaßt, Abwasserkanäle zu bauen.«
»Und so etwas verhindert eine Epidemie? Eine Epidemie hätte uns nützen können.«
»Sie hätte vor allem die Alten und die Kinder getötet, nicht die Krieger. Ich habe versucht, keine Soldaten zu behandeln – mach dir keine Sorgen deswegen. Was ist mit meinen Sklaven in Novidunum? Weißt du, wie es ihnen geht?«
»Arbetio beaufsichtigt sie für dich. Er hat dieses Mädchen, das er von Valerius gekauft hat, geheiratet, und sie leben alle zusammen in dem von dir gekauften neuen Haus. Arbetio legt etwas Geld für den Pachtzins für dich zur Seite. Du kannst ihm vertrauen. Er wollte sich im Austausch gegen dich anbieten, aber Sebastianus meinte, ein dickes Lösegeld würde eher zum Erfolg führen.«
»Haben wir noch ein paar Arzneimittel von Philon in Ägypten bekommen?«
Athanaric antwortete nicht. »Guter Gott, Charis!« rief er statt dessen aus. »Warum um alles in der Welt hast du niemandem erzählt, wer du bist? Sebastianus hätte dich auf der Stelle nach Hause geschickt, dann wärst du nicht in dieses Schlamassel geraten. Du hast hier nichts zu suchen.«
»Und wo glaubst du, habe ich etwas zu suchen?« fragte ich ihn.
»Vielleicht in Festinus’ Haus, in das mein Vater mich geschickt hätte?«
»Natürlich nicht. Aber ich habe mit deinem Bruder gesprochen, ich weiß, daß er dich schon seit Jahren zu überreden versucht, heimzukehren.«
»Heimzukehren, wohin? Um mit Schande bedeckt in seinem Haus herumzusitzen oder irgend so einen Tölpel zu heiraten und meine Zeit damit zuzubringen, Homer zu lesen und auf den Fußboden zu starren? Ich bin Arzt, und ich will es bleiben.«
»Sebastianus ist kein Tölpel, und er würde nicht von dir erwarten, daß du deine Zeit damit zubringst, auf den Fußboden zu starren.«
»Mach dich nicht lächerlich. Sebastianus würde mich nicht heiraten.«