Aber dies waren im Grunde genommen alles noch keine ernsthaften Probleme. Die begannen erst in jenem Winter. Im Frühherbst marschierten die vereinigten römischen Streitkräfte in nördliche Richtung und trafen bei Salices auf die Goten, wo sich beide Seiten eine offene Feldschlacht lieferten. Es gab ein großes Gemetzel, aber keinen eindeutigen Sieger. Die gotischen Truppen zogen sich nach Carragines, die römischen nach Marcianopolis zurück. Die Goten versorgten ihre Verwundeten und stritten darüber, was sie als Nächstes tun sollten. Die Römer, etwas praktischer und fleißiger veranlagt, verbarrikadierten die Pässe in den Hämusbergen. Ehe die Goten dies so recht mitbekamen, saßen sie im Norden der Diözese in der Falle, und dort gab es, wie Amalberga bereits gesagt hatte, nichts zu essen.
Die Goten unternahmen ein paar Versuche, die römischen Linien zu durchbrechen und in den stärker bevölkerten und wohlversorgten Süden vorzustoßen. Sie handelten sich jedoch nur weitere Verluste ein. Frithigern schickte Abgesandte an die Römer in Marcianopolis, aber sie wurden an den Toren abgewiesen und nicht einmal in die Stadt gelassen. Die Römer waren nicht bereit, zu verhandeln. Frithigern schickte Abgesandte nach Tomis und machte das Angebot, mich gegen Getreidevorräte einzutauschen, doch inzwischen war es Spätherbst geworden und Thorion war offensichtlich bereits nach Bithynien versetzt worden. Der neue Statthalter aber gab nichts auf Frithigerns Drohungen. Ich wurde während dieser Vorgänge im Haus gefangengehalten, aber schließlich wurde dem König klar, daß sich niemand groß dafür interessierte, was mit mir geschah, außer daß vielleicht irgendwann jemand auf den Gedanken kam, mein Schicksal zu rächen. So schickte er mich wieder ins Hospital, damit ich mich um die Kranken kümmerte. Meine medizinischen Fähigkeiten waren gefragter als je zuvor. Wenn die Menschen frieren und hungern, erkranken sie schnell. Außerdem sterben sie leicht. Im besten Fall, hat einmal jemand gesagt, ist die Medizin »ein Nachdenken über den Tod«. Und in jenem Winter in Carragines schien der Tod manchmal das einzige zu sein, woran ich denken konnte. Die Tage waren eine unendlich lange Kette von Hunger und Kälte, Krankheit und harter Arbeit; ausgemergelte, vom Fieber geschüttelte Körper unter Bettzeug voller Ungeziefer; grauhäutige, auf Lastkarren gestapelte Leichname, die auf ihre Verbrennung warteten und deren Augen glasig und gefroren waren; das leise Wimmern verhungernder Kinder und das stille Sterben alter Frauen; der Rauch von den Feuerstellen und der scharfe Geruch nach Enzian. Meine Patientin, bei der ich einen Kaiserschnitt durchgeführt hatte, verlor ihr Baby, dann starb sie selbst. Die römischen Sklaven, die ich in jenem Sommer zusammengeflickt hatte, wurden massenweise unter einer dünnen Schicht zusammengekratzter gefrorener Erde verscharrt. Das war für mich schlimmer als die dauernden Versuche der Goten, mich zu einer Ehe zu überreden, schlimmer, als eine Gefangene zu sein, ja sogar schlimmer als das Verbot, die Römer zu behandeln. Ich war vom Tod umgeben, und meine gesamte Heilkunst blieb nutzlos.
Die Goten glaubten jetzt, die Römer würden niemals verhandeln, sie hätten die Absicht, die gotische Rasse insgesamt auszulöschen. Ich nahm nicht an, daß dies stimmte – die Römer wollten sicherlich einen Friedensvertrag schließen, sobald die Goten endgültig zusammenbrechen und sich bereit erklären würden, alle Bedingungen zu akzeptieren. Frithigerns Vasallenkönigtum stand wohl nicht mehr zur Debatte, aber die Römer waren nach wie vor von der Vorstellung angetan, gotische Siedler in den unbebauten Landstrichen seßhaft zu machen. Doch die Goten brachen nicht zusammen. Statt dessen zeigten sie neues Interesse für den Feind vom jenseitigen Donauufer, dessentwegen sie nach Thrazien geflohen waren: In ihrer Verzweiflung verbündeten sie sich mit den Hunnen.
In Carragines sah ich nicht viel von diesen wilden, grausamen Menschen. Sie mögen keine Städte und meiden Häuser wie unsereins Gräber. Frithigern verhandelte mit ihnen stets weit weg vom Lager, wobei er auf dem Rücken seines Pferdes saß, so wie sie auf dem Rücken ihrer zottigen kleinen Ponys saßen. Er haßte und fürchtete sie – alle Goten taten dies –, und Amalbergas Frauen erzählten ungeheuerliche Geschichten über die Wildheit und Grausamkeit jenes Volkes. Frithigern hatte die Hunnen zu einem Bündnis überredet und ihnen reiche Beutezüge versprochen, deren Ziel – selbstverständlich – römische Städte voller Gold und Seide und sonstiger Schätze waren. Und natürlich römische Sklaven! Die Goten konstruierten eine aus Booten bestehende Brücke, und die Hunnen schwärmten in Massen über den Fluß: Tausende und Abertausende von ihnen, eine wilde, grausame, angsteinflößende Armee.
Als die Römer zu Beginn des Frühjahrs entdeckten, was geschehen war, zogen sie ihre Truppen von den Festungsanlagen in den Bergen zurück. Sie hatten nicht genug Soldaten, um den vereinigten Goten, Hunnen und Alanen standzuhalten, und der römische Befehlshaber war der Meinung, seine Männer täten besser daran, die angrenzenden Regionen Daziens und Asiens zu schützen. So wurde Thrazien der Plünderung ausgeliefert. Die Barbaren griffen die befestigten Städte immer noch nicht an – die Hunnen hatten mit der Führung eines Belagerungskrieges noch weniger Erfahrung als die Goten –, aber sie strömten in den Süden, hinunter bis zum Mittelmeer und plünderten, mordeten, sengten und vergewaltigten, wo auch immer sie hinkamen. Es gab wieder genügend Lebensmittel in Carragines, aber ich mochte kaum davon essen, da ich wußte, auf welche Weise die Soldaten dazu gekommen waren.
Etwa Mitte Mai wurde ich krank. Fieber war etwas Alltägliches im Lager, Epidemien jedoch inzwischen nicht mehr. Normalerweise hätte ich die Krankheit wahrscheinlich mit einem Achselzucken abgetan, aber nach der langen Hungerei und erschöpft durch die Arbeit und den Ärger mit den Eheplänen war ich ziemlich geschwächt. Es begann mit Kopfschmerzen und Fieber. Ich hörte auf zu arbeiten, da ich Angst hatte, jemanden anzustecken, und ging zu Bett. Es fehlte nicht mehr viel, und ich wäre niemals mehr aufgestanden.
Zuerst versuchte Amalberga mich zu pflegen, dann, in der zweiten Woche kam Edico, der Frithigern und die Armee begleitet hatte, zurück, und sie schickte nach ihm. Inzwischen war das Fieber mächtig gestiegen und von Erbrechen und Durchfall begleitet. Ich war ganz benommen und gefühllos und weigerte mich, Edicos Fragen zu beantworten oder die von ihm vorgeschlagene Behandlung mitzumachen. Ich sagte ihm lediglich, er solle mich allein lassen. Er tat es nicht, sondern flößte mir Schierling auf einem Schwamm ein, damit das Fieber herunterginge, dann Honigwasser mit Wein und schließlich ein wenig klare Brühe – alles Dinge, die ich ebenfalls verschrieben hätte. Ich weinte und beschuldigte ihn, mir mein ganzes Wissen gestohlen zu haben, nannte ihn einen Verräter und bat ihn, er solle mich in Frieden sterben lassen. Ich war aller Dinge so überdrüssig. Ich erinnerte mich daran, wie Athanasios einst zu mir gesagt hatte, diese Welt für den Himmel einzutauschen sei das gleiche, als tausche man eine Kupferdrachme für hundert Goldstücke ein. Es gab nirgendwo einen Platz auf der Welt, wo ich ganz und gar ich selbst sein konnte: eine Römerin, eine Ärztin und eine Frau. Im Himmel, dachte ich, könnte vielleicht jeder ganz er selbst sein. Ich stellte mir das Sterben wie einen tiefen Blick ins Wasser vor: Die Oberfläche wird aufgewühlt, in der Tiefe brodelt es einen Augenblick lang, doch dann beruhigen sich die Wassermassen wieder, und man kann klar bis auf den Grund aller Dinge sehen.