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Wir hatten in jenem Jahr einen langen Sommer, heiß und feucht. Das Lager war inzwischen alt, es stank und wimmelte von Fliegen und brütete zahlreiche Krankheiten aus. Erst als ich wieder auf den Beinen war, merkte ich, daß ich sehr schnell ermüdete und keine Kraft mehr hatte, für Dinge zu kämpfen, für die ich hätte kämpfen müssen – zum Beispiel für Aquädukte, um frisches Wasser heranzuführen, oder für Müllplätze außerhalb der Lagerwälle. Ich hatte den Winter über so viele Patienten sterben sehen, daß es mich kaum noch berührte. Mir wurde wieder erlaubt, römische Gefangene zu behandeln, doch nachdem ich mich so dafür eingesetzt hatte, sah es so aus, als könne ich ihnen nicht viel helfen. Edico hatte fast alle Arzneimittel mitgenommen, und ich war nicht in der Lage, den Gefangenen bessere Lebensbedingungen zu verschaffen. All meine Freier, all diese schrecklichen Barbaren, waren inzwischen fort, aber ich war nicht so erleichtert, wie ich erwartet hatte. Ich konnte kaum mehr richtig denken, und meine Gefühle schienen ebenso stumpf, zäh und klebrig zu sein wie die Luft. Eines Abends fiel mir auf, daß das Lager derart nachlässig bewacht wurde, daß es hätte möglich sein müssen, aus ihm hinauszuschlüpfen. Aber in dem jämmerlichen Zustand, in dem ich mich befand, konnte ich nichts mit dieser Entdeckung anfangen. Ich war viel zu erschöpft, um an Flucht zu denken, viel zu erschöpft für alles andere als eine mechanische, unbeholfen abgespulte Arbeit. Selbst die Neuigkeiten vom Krieg konnten nicht viel Eindruck auf mich machen. Valens hatte Konstantinopel an der Spitze einer großen Streitmacht verlassen; die Goten zogen sich in Richtung auf Hadrianopolis zurück. Der Kaiser und der Heerführer Sebastianus erwogen, sie ohne die aus dem Westen heranrückenden Truppen anzugreifen. Das waren bedeutende Ereignisse, und mein eigenes Schicksal hing von ihrem Ausgang ab, doch sie schienen mich nichts anzugehen, so als hätten sie sich schon viele Male zuvor ereignet. Und dann, an einem schwülen Nachmittag Anfang August, kam ich nach dem Besuch bei einigen Genesenden ins Hospital zurück und entdeckte Athanaric, wie er in aller Seelenruhe inmitten einer Gruppe anderer Patienten darauf wartete, untersucht zu werden.

Er war wie ein gemeiner Soldat in eine rauhe Wolltunika gekleidet und trug seinen einen Arm in einer Schlinge. Einen Augenblick lang traute ich meinen Augen nicht, doch dann bemerkte ich, wie er mich erkannte und über meinen Anblick erschrak. Er sah schnell wieder weg und kratzte sich mit der nicht verbundenen Hand seinen Bart und schließlich verstand ich. Es gelang mir, mein ungläubiges Starren in ein Niesen übergehen zu lassen, ich putzte mir die Nase und begann mit der Untersuchung der Patienten.

Bei dieser Aufgabe half mir eine Hebamme, glücklicherweise eine Frau, die Athanaric noch nie gesehen hatte. Als sie versuchte, sich seinen Arm anzusehen, protestierte er. »Ich will von der römischen Ärztin behandelt werden«, sagte er auf gotisch, »nicht von irgendeiner alten Hexe, die sich nur bei Säuglingen auskennt.«

»Die römische Ärztin behandelt keine Verwundeten«, erwiderte die Hebamme und zerrte an der Schlinge. Athanaric zuckte zusammen und preßte seinen Arm an sich, als ob er ihn schmerzte.

»Ach, laß doch!« sagte ich zu ihr. »Ich sehe mir diesen Mann gleich an. Hol mir doch bitte etwas Reinigungslösung!«

Sie ging, und ich trat auf Athanaric zu, um mir seinen Arm anzusehen. Ich wagte immer noch nicht, mit ihm zu sprechen, nicht vor den anderen Patienten. Ich fühlte mich ganz schwindelig, und mein Blut summte mir in den Ohren. »Was ist passiert?« fragte ich Athanaric und machte ihm die Schlinge ab.

»Eine Schwertwunde«, erwiderte er in mürrischem Tonfall.

»Der Arm ist gebrochen. Der Arzt im Süden hat ihn geschient. Aber inzwischen ist er infiziert.«

Ich nahm ihm den Verband sorgfältig ab. Der Arm war zu meiner Erleichterung vollkommen gesund und unverletzt, aber unter dem Verband steckte ein Zettel. Ich zögerte, dann ließ ich ihn in meiner Hand verschwinden, sah auf und runzelte die Stirn, und er sagte immer noch in dem gleichen mürrischen Tonfalclass="underline"

»Nun?«

»Sieht schlimm aus«, sagte ich. »Du solltest keinen Talisman in die Wunde stecken, aber du hast Glück gehabt; der Arm muß nicht ausgebrannt werden.«

Die Hebamme kam mit der Reinigungslösung zurück, und ich befahl ihr, sich um einen der anderen Patienten, ein krankes Kind, zu kümmern. Ich tat so, als säuberte ich den Arm, und legte einen neuen Verband an. Ich sagte Athanaric, er solle warten, bis ich ein anderes Heilkraut geholt hätte, und ging in den Arzneimittelraum. Zum Glück war er leer. Ich entfaltete den Zettel und las: »Behandle mich und schicke mich fort. Dann geh sobald wie möglich zur Mauer hinter dem Hospital.«

Ich fürchtete, vor lauter Erregung und dem plötzlichen Aufkeimen von Hoffnung ohnmächtig zu werden. Dann zerriß ich den Zettel, aß die Fetzen auf und ging in das Untersuchungszimmer zurück. Ich mußte umkehren und das Heilkraut holen, dessentwegen ich angeblich fortgegangen war. Ich gab es Athanaric und sagte ihm, er solle nach Hause zu seiner Familie gehen, sich ausruhen und am nächsten Morgen wiederkommen, damit die Wunde gereinigt und neu verbunden werden könne. Er machte sich davon.

Erst am späten Nachmittag fand ich eine Gelegenheit, meinen Bewachern zu entkommen. Es war das erstemal seit Monaten, daß ich allein war, und meine Gedanken wirbelten mir im Kopf herum wie ein Trupp Reiter in vollem Galopp: Athanaric, Flucht, Freiheit, Erlösung von allen Qualen, die große weite Welt. Ich blieb auf dem Weg ins Freie stehen und sah auf in den unermeßlichen Himmel, der mit einem feuchten Dunstschleier überzogen war, und ich glaubte, in ihn hineinfliegen zu können, direkt bis zur Sonne hinauf. Ich war dabei, meine Patienten aufzugeben und wahrscheinlich auch meine Laufbahn, aber das war mir inzwischen egal. Ich hatte den Tod satt. Ich wollte leben. Frei sein.

Das Hospital stieß direkt an den Lagerwall und lag ein wenig abseits von den anderen Wagen und Unterkünften, um die ansteckenden Kranken isoliert zu halten. Ich ging schnurstracks auf seine Rückseite und versuchte, einen selbstsicheren Eindruck zu machen, so als habe ich dort etwas zu erledigen. Als ich den Palisadenzaun fast erreicht hatte, hörte ich zu meiner Rechten einen leisen Pfiff. Ich blickte mich suchend um und entdeckte Athanaric, der unter einem der Wagen wartete. Ich rannte zu ihm, als hätten meine Füße Flügel.

Athanaric verschwendete keine Zeit mit irgendwelchen Begrüßungen oder Erklärungen. Er ergriff mich am Arm, zerrte mich unter den Wagen und stieß mich in Richtung auf den Palisadenzaun. Jemand hatte ein Loch unter ihm hindurchgegraben. Ich bückte mich, schlüpfte hindurch und Athanaric folgte mir. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf eine Ansammlung von Bäumen ein wenig weiter weg, und wir rannten in die bezeichnete Richtung.

»Ein Wachsoldat kommt etwa alle zehn Minuten vorbei«, erklärte Athanaric, als wir die Bäume erreicht hatten. »Er ist gerade verschwunden. Wir warten, bis er wieder auftaucht und von neuem verschwindet. Dann machen wir uns davon. Ich habe ein paar Pferde besorgt, die etwa drei Meilen von hier warten; kannst du soweit laufen?«

»Natürlich.« Ich setzte mich, lehnte meinen Kopf an einen Baumstamm und blickte auf die Wälle der Wagenstadt.

»Du siehst nicht gut aus.« Er beugte sich über mich und sah besorgt aus. »Ich war krank«, erzählte ich ihm, »und es kommt alles sehr plötzlich. Aber drei Meilen kann ich laufen. Gütiger Gott, ich wäre bereit, sie zu kriechen. Danke. Ich finde einfach keine Worte. Danke.«

Er berührte mich an der Schulter, runzelte die Stirn, dann, als der Wachsoldat in Sicht kam und langsam mit geschulterter Lanze an der Außenseite des Walles entlangging, kniete er sich neben mich. Der Soldat blieb stehen, nahm seine Lanze herunter und stieß sie müßig in ein Kaninchenloch, dann zuckte er die Achseln und ging weiter. Athanaric berührte mich erneut an der Schulter, und wir schlüpften aus dem Gehölz und liefen mit kräftig ausholenden Schritten über das offene Feld und schnell weiter durch Gräben, über andere Felder und Gräben bis auf einen Pfad, der in den Wald führte. Die tiefstehende Nachmittagssonne schien schräg durch das Blattwerk; der Geruch nach lockerer Erde und feuchtem Moos, fremdartig und köstlich nach dem Gestank des Lagers; nichts als Arzneimittel und Rauch so viele Monate hindurch. Vogelgesang, das Rascheln von Laub unter unseren Schritten, mein keuchender Atem. Dann das Klirren von Pferdegeschirr und das leise Wiehern eines Pferdes; in dem schräg einfallenden Licht erkannte ich das tiefe Braun und helle Grau von Pferden. »Athanaric!« rief jemand erleichtert und dann: »Chariton!«, und Arbetio kam auf uns zugerannt und umarmte mich.