»Du bist ebenfalls ein Freund«, sagte Arbetio. »Daß du eine Frau bist, ändert nichts daran.«
Athanaric nickte. »Wir konnten dich schließlich nicht deinem Schicksal überlassen. Ich habe versprochen, dich da rauszuholen und jetzt habe ich es getan.«
Einen Augenblick lang saßen wir schweigend da, dann fragte Arbetio: »Was willst du jetzt tun? Weißt du schon, wohin du gehen kannst?«
»Mir wird schon etwas einfallen«, erwiderte ich und versuchte, nachzudenken. Ich war nicht mehr daran gewöhnt, eine Zukunft zu haben. Vielleicht hatte ich in Wirklichkeit auch gar keine. Vielleicht war ich dazu bestimmt, im Haus meines Bruders alt zu werden. Aber vielleicht konnte ich Thorion auch dazu überreden, mich gehenzulassen. Plötzlich entschloß ich mich einfach, so zu handeln, als könne ich selbst wählen und mein Leben so gestalten, wie es mir paßte; und ich überlegte, was ich tun sollte. Einen Augenblick später fügte ich hinzu: »Vielleicht gehe ich nach Alexandria zurück. Mein Vertrag mit der Armee ist ja wahrscheinlich hinfällig.«
Arbetio lachte. »Könntest du denn in Alexandria Lehrer der Heilkunst werden?«
»Ich glaube kaum. Aber mein alter Lehrherr Philon würde mich wahrscheinlich als Partner aufnehmen. Das heißt, falls ich wegen der Rolle, die ich bei Bischof Petrus’ Flucht gespielt habe, nicht immer noch im Verdacht stehe.«
Athanaric sah mich erneut an, dann blickte er auf sein halb aufgegessenes Brot. »Bischof Petrus sitzt wieder auf dem Thron von St. Marcus«, berichtete er. »Das war der Inhalt der Botschaft, die ich nach Konstantinopel gebracht habe.«
»Was!« rief ich aus. Noch vor einer Woche hatten selbst Neuigkeiten aus Thrazien in meinen Ohren schal oder uninteressant geklungen. Heute morgen fand ich alles und jedes aufregend.
»Was ist mit Lucius passiert?«
»Seine Wachsoldaten wurden zurückgezogen, und er hielt es für klüger, Alexandria zu verlassen. Unser Erhabener Kaiser hatte weder Zeit noch Soldaten, um sich um den Aufruhr in Alexandria zu kümmern. Deshalb hat er Petrus den bischöflichen Thron überlassen, um endlich Frieden zu haben.«
»Dann gehe ich nach Alexandria!« sagte ich und trank meinen Wein in einem Zug aus.
»Den Teufel wirst du!« entgegnete Athanaric. »Sobald der Kaiser die Goten angesiedelt hat, wird Petrus wieder ins Exil geschickt – falls er bis dahin nicht tot ist. Er ist angeblich krank.«
»Dann braucht er einen Arzt. Wahrscheinlich stört es ihn nicht einmal, daß ich eine Frau bin, wenn ich ihm erzähle, daß es Athanasios ebenfalls nicht gestört hat.«
»Bist du nicht das letztemal, als du Alexandria verlassen hast, mit knapper Not der Folter entkommen?«
»Diesmal werde ich vorsichtiger sein. Ich werde versuchen, zwischen mir und der Kirche ein bißchen Distanz zu halten. Ich werde wieder bei Philon wohnen.«
»Stört es ihn denn nicht, daß du eine Frau bist?« fragte Athanaric, und in seiner Stimme klang Spott mit.
»Er wußte es schon, bevor ich fortging. Er hat mich einmal behandelt, als ich krank war. Und er verhielt sich wie Arbetio – wie ein guter Kollege. Zuerst war es wie ein Schock, aber es spielte kaum eine Rolle.« Arbetio lächelte und nickte. »Du bist wahrscheinlich der Ansicht, ich sollte nach Bithynien gehen und in dem Haus meines Bruders herumsitzen und mich wie eine Dame benehmen?«
Athanaric öffnete den Mund, dann schloß er ihn wieder. Endlich meinte er: »Dein Bruder will dich unbedingt bald wiedersehen.«
»Ich möchte ihn ebenfalls gerne wiedersehen. Wenn er damit einverstanden ist, mich ziehen zu lassen, werde ich ihn zuerst in Bithynien besuchen. Aber anschließend werde ich nach Alexandria gehen. Es ist eine wundervolle Stadt, Arbetio. Der beste Ort in der Welt für einen Mediziner. Kommt! Machen wir uns aus dem Staub, bevor die Goten nach uns suchen! Wer hätte gedacht, daß ich einen Kurier zur Eile drängen muß?«
Athanaric blickte mich finster an, schob den Rest seines Brotes in den Mund und ging zu den Pferden. Arbetio grinste.
»Das klingt eher nach dem Mann, an den ich mich erinnere«, sagte er. »Du siehst schon besser aus.«
Ich lachte und stand auf, dann betrachtete ich erneut meine Kleider. »Hast du vielleicht ein paar Ersatzhosen?« fragte ich Arbetio.
»Daran haben wir nicht gedacht«, erwiderte er. »Außerdem wollten wir nicht soviel mit uns herumschleppen. Tut mir leid.«
»Schade«, sagte ich. »Dann leih mir doch mal dein Messer.« Arbetio reichte mir sein Gürtelmesser, ich schnitt einige Streifen vom Saum meiner Untertunika ab und begann, mir die Schenkel zu verbinden, die ich mir am vorhergehenden Tag am Sattel wundgescheuert hatte. Athanaric brachte mir mein Pferd, dann blieb er unvermittelt stehen und starrte meine Beine an. Sie waren kein sehr hübscher Anblick: sehr dünn, wundgescheuert und voller Kratzer. »Du hättest Hosen mitbringen sollen«, sagte ich zu Athanaric.
Eigenartigerweise wurde er plötzlich feuerrot und wandte den Blick ab. Ich war ebenfalls verlegen. Aber dann schürzte ich den Rock über meinen Gürtel, kletterte in den Sattel, und wir ritten los.
Wir kamen hauptsächlich durch unbebautes Land, ritten durch Urwald und über offene Heide, überquerten von den Bauern aufgegebenes und jetzt brachliegendes Land und ritten an ganzen Dörfern vorbei, die von ihren sämtlichen Bewohnern verlassen und von den Eindringlingen niedergebrannt worden waren. Wir ritten im Schritt, weil die Pferde nicht mehr galoppieren konnten, und eine Weile saßen wir schweigend in unseren Sätteln. Schließlich fragte ich Athanaric, teils um die Verlegenheit, die sich zwischen uns eingestellt hatte, zu mildern, teils weil ich wirklich neugierig war, wann und wodurch er mein Geheimnis erraten hatte.
Athanaric schnaubte verächtlich. »Viel zu spät«, erwiderte er.
»Schließlich erwartet man von mir, daß mir solche Dinge auffallen; das gehört zu meinen Aufgaben. Aber ich habe nicht entdeckt, was ein siebzigjähriger alter Geistlicher sofort bemerkt hatte. Als es mir klar wurde, habe ich mich gründlich geschämt.«
»Athanasios behauptete, Gott habe es ihm offenbart«, sagte ich. »Und er war der einzige, der jemals etwas vermutet hat. Die Menschen glauben, was man ihnen erzählt – vor allem, wenn das Gegenteil davon noch unglaubwürdiger ist als die Geschichte selbst.«
Athanaric schnaubte noch einmal, dann lächelte er entschuldigend. »Genau: Die Vorstellung war ganz einfach zu verrückt. Aber ich hätte etwas vermuten müssen. Ich wußte eine ganze Menge von dir – ich habe mich in Ägypten nach dir umgehört, nachdem wir uns das erstemal begegnet sind. Ich fragte den Chefarzt des Museums über dich aus. Er sagte, du seiest eines Morgens im Frühjahr ziemlich plötzlich aufgetaucht, praktisch ohne Empfehlungen und ohne Geld, hättest behauptet, zum Haushalt eines gewissen Theodoros von Ephesus zu gehören und hättest förmlich darum gebettelt, daß er dir die Heilkunst des Hippokrates beibringt. Er sagte, er habe nicht gedacht, daß ein Eunuch die harte Arbeit, die mit dem Studium der Medizin verbunden ist, durchstehen könnte. Er habe geglaubt, du seiest vielleicht ein fortgelaufener Sklave, und habe dich abgewiesen. Er sagte, Philon habe dich nur aus Barmherzigkeit aufgenommen, aber du hättest dich hervorragend gemacht und seiest äußerst begabt. Als ich in ihn drang, gab er zu, nach wie vor zu glauben, daß du ein fortgelaufener Sklave bist. Ein paar andere vermuteten übrigens das gleiche. Aber ich stimmte mit ihnen überein, es sei besser, wenn ein Eunuch Kranke behandelt, als im Haus eines reichen Mannes Bestechungsgelder einzustreichen. Und so ließ ich die Sache auf sich beruhen.
Die Geschichte von Festinus, der inmitten seiner Hochzeitsvorbereitungen sitzengelassen worden war, kannte ich bereits – sie erregte ziemliches Aufsehen in Asien –, und als sowohl dein Bruder als auch Festinus in Thrazien residierten, ging ich der Sache noch einmal nach, weil ich der Meinung war, eine derartige Privatfehde könne womöglich Probleme aufwerfen. Und ich erfuhr, die Schwester des vortrefflichen Theodoros sei eines Morgens im Frühjahr ganz einfach verschwunden, spurlos verschwunden. Damals fragte ich mich, ob du vielleicht etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hättest und in aller Eile nach Alexandria gegangen seiest, um dich vor Festinus zu verstecken aber die Wahrheit habe ich nicht vermutet. Du behauptetest, ein Eunuch zu sein, und alle Welt glaubte es; ich hab zu keinem Zeitpunkt daran gezweifelt. Doch ich hätte es merken müssen, daß du keiner bist. Ich glaube, in meinem Herzen habe ich es gemerkt, aber was mein Herz sah, wies mein Verstand ganz schnell von sich. Wahrscheinlich warf ich mir sogar vor, etwas Derartiges von einem anderen Mann zu denken.