Aber mir fiel auf einmal ein, daß er gerade sein Leben und seine Laufbahn riskiert hatte, um mich zu befreien. Wenn ich es objektiv betrachtete, mußte ich zugeben, daß er sehr wohl das Recht dazu hatte, mir Ratschläge zu erteilen.
»Also gut«, meinte ich. »Ich werde eine Zeitlang bei meinem Bruder in Bithynien bleiben und abwarten, was geschieht.« Ich lächelte Athanaric an und versuchte, mich für meine Gereiztheit zu entschuldigen.
Er wich meinem Blick aus und runzelte erneut die Stirn. Ich konnte nicht verstehen, warum er das tat; ich wußte doch, wie unbeschwert und fröhlich er immer gewesen war. Vielleicht wußte er ganz einfach nicht, wie er mit mir als Frau umgehen sollte. Oder vielleicht dachte er auch, ich hätte ihm mehr Ärger gemacht, als ich wert war. Ich seufzte und wortlos ritten wir weiter.
Bis zum Nachmittag war ich erneut sehr müde und bis zum Abend völlig erschöpft. Wenn ich auf eigene Faust aus Carragines geflohen und in meinem gegenwärtigen Zustand querfeldein gelaufen wäre, wäre ich wohl nicht weit gekommen. In jener Nacht kampierten wir in einem verlassenen Bauernhaus; wir hatten den ganzen Tag kein menschliches Lebewesen erblickt, und Athanaric war der Ansicht, dort seien wir sicher. In dem Haus war es gewiß bequemer als im Wald: Obwohl es praktisch nur aus einem einzigen Raum bestand, fanden wir Betten mit Matratzen darin vor, in die wir uns legen konnten, dazu aufgeschichtetes Feuerholz neben dem Herd. Meine Muskeln schmerzten von dem vielen Reiten wie verrückt, und ich legte mich sofort nach unserer Ankunft hin und überließ es den beiden, die Pferde zu versorgen und das Essen vorzubereiten. Ich schlief sofort ein.
Als ich spürte, daß mich jemand beobachtete, wachte ich auf. Ganz vorsichtig öffnete ich die Augen, nur den Bruchteil einer Sekunde, und lugte in die Dunkelheit. Im Herd brannte ein Feuer und spendete genügend Licht, daß ich Athanarics Umrisse erkennen konnte. Er beugte sich über mein Bett und sah mich an, aber ich rührte mich nicht, vielleicht weil ich zu müde war oder weil ich mich immer noch wegen meiner Gereiztheit schämte.
»Sie schläft immer noch«, sagte er zu Arbetio und wandte sich ab.
»Nun, dann weck sie auf«, erwiderte Arbetio. »Essen hat sie genauso nötig wie Schlaf.«
Athanaric wandte sich erneut um und streckte eine Hand aus, um mich wachzurütteln. Doch dann hielt er inne, gerade bevor ich mich aufraffen und von selbst aufstehen wollte. Statt dessen deckte er mich mit meinem Umhang zu, dann berührte er ganz leicht meine Haare. Ich dachte, mein Herz würde aufhören zu schlagen. »Laß sie noch ein wenig schlafen«, sagte er in einer mir ganz unbekannten, sanften Stimme.
Arbetio schien ganz und gar nicht damit einverstanden zu sein:
»Damit du sie in aller Ruhe anschauen kannst?«
»Sie ist müde.«
»Sie ist müde, weil sie halb verhungert und seit einem Jahr nicht mehr geritten ist. Sobald sie etwas gegessen hat, wird sie sich besser fühlen. Vor allem, vortrefflicher Athanaric, wenn du sie nicht immer nur anfährst, sondern ihr einmal deine wahren Gefühle offenbarst.«
»Oh, guter Gott! Das letzte, was sie jetzt gebrauchen kann, ist, daß schon wieder ein Gote um ihre Hand anhält. Vor allem nicht während einer Reise und mitten durch die Wildnis Thraziens. Es wäre ihr sicherlich sehr peinlich, mich abzuweisen.«
Ich setzte mich auf. Athanaric machte erschrocken einen Schritt rückwärts. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, war mir nicht sicher, ob er es wirklich so meinte, wie es den Anschein hatte.
»Sacra maiestas!« rief er aus. »Du bist ja wach.«
»Ich… Ich mochte nur noch nicht aufstehen. Was hast du gerade gesagt?«
»Nichts«, erwiderte Athanaric. Selbst in dem schwachen Licht des Feuers hätte ich schwören können, daß er rot wurde.
»Aber du hast doch davon gesprochen…«
»Ich wollte gar nichts damit sagen. Ich weiß ja, daß du nichts davon hören willst, und du kannst vergessen, was ich gesagt habe. Wir sind Freunde, und ich hätte für jeden Mann, den ich schätze, genausoviel getan.«
»Aber was hast du gesagt? Arbetio, was hat er gesagt?«
Arbetio zögerte, sah Athanaric an und sagte dann leise: »Er wollte dich um die Erlaubnis bitten, eine Ehe mit dir zu vereinbaren, sobald ihr mit heiler Haut römisches Land betreten habt.«
Ich preßte meine Hände zusammen, um sie daran zu hindern, zu zittern. »Ist das wahr?«
»Du kannst den Vorschlag erst einmal vergessen!« fuhr Athanaric rasch dazwischen. »Ich weiß schließlich, daß du im Augenblick nichts mehr von Ehe hören willst – vielleicht willst du ja nächstes Jahr darüber nachdenken… das heißt, falls du mich überhaupt magst.«
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »Aber warum denn? Du brauchst mich nicht zu beschützen, das weißt du doch: Ich komme schon alleine zurecht. Ich dachte, du möchtest eine Frau wie Amalberga.«
»Du kommst damit zurecht, dir dauernd Ärger zuzuziehen«, entgegnete Athanaric und gewann allmählich seine Fassung wieder. »Aber das hat überhaupt nichts damit zu tun. Amalberga kann überhaupt nicht bestehen neben dir; vielleicht ist sie ja ein Schwan, aber dann bist du ein Phönix.« Ich schloß die Augen. Ich konnte es nicht ertragen. Ich glaubte, wie der Vogel Phönix vom Feuer verzehrt zu werden, verzehrt von der Feuerglut der Liebe.
»Du brauchst nichts zu sagen!« rief Athanaric beunruhigt aus.
»Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Ich wollte es auch gar nicht, aber ich dachte, du schläfst. Vergiß es einfach.«
»Nicht in tausend Jahren«, sagte ich wild entschlossen, öffnete die Augen und sah ihn an. Und das war ein Anblick, an den ich mich ebenfalls tausend Jahre lang erinnern werde: sein halb dem Feuer zugewandtes Gesicht, das Licht, das sich in seinen Haaren fing, und seine Augen, in denen sich Beunruhigung, Verwirrung, Unsicherheit widerspiegelten. »Ist es denn wirklich wahr, daß du mich liebst?« fragte ich und wagte nicht, daran zu glauben.
»Natürlich. Ist das denn nicht offensichtlich? Aber du brauchst keine Angst zu haben, daß ich mich dir aufdrängen will. Ich weiß, daß du von diesen Dingen bereits viel zuviel gehört hast. Und du hast mir einmal erzählt, es gäbe einen Mann, in den du verliebt gewesen seiest. Wenn das immer noch der Fall sein sollte, will ich mich nicht zwischen euch drängen.«
Ich sprang auf. »Oh, ihr Götter! Athanaric, das warst doch du! Es gab niemals einen anderen als dich! Ist das denn nicht offensichtlich?«
Er starrte mich einen Augenblick lang an. Schließlich berührte er meine Wange, sehr zögernd, und dann küßte er mich. Ich schlang meine Arme um seinen Hals. In jenem Augenblick wünschte ich, sterben zu können. Ich glaubte, nichts in meinem Leben würde jemals wieder so wundervoll sein.
Arbetio hüstelte verlegen, und Athanaric löste sich von mir und sah mich befangen an. Ich ließ ihn nicht gehen; ich hatte zu lange gewartet, um ihn so rasch gehenzulassen. Er wollte etwas sagen, aber ich küßte ihn, und er umarmte mich wieder und vergaß, was immer er hatte sagen wollen.
»Du hast wirklich mich gemeint«, sagte er, und in seiner Stimme klang Überraschung mit, als wir schließlich voneinander abließen.
»Du, mein Leben und meine Seele!« sagte ich und schmiegte meinen Kopf an seine Schulter. Ich konnte die Festigkeit seiner Muskeln unter dem nach Schweiß und Pferd riechenden Umhang spüren, seine Arme, die mich fest umklammerten, und das Schlagen seines Herzens. Hippokrates sagt, der Körper sei wissend. Zumindest weiß er, wie er Glück zu schenken vermag. Arbetio hüstelte erneut verlegen und scharrte mit seinen Füßen. Der arme Mann, er konnte nirgends hingehen, um nicht zu stören, außer vielleicht nach draußen zu den Pferden. Ich glaube, wenn er nicht dagewesen wäre, wären Athanaric und ich im Nu ins Bett gesunken. Aber das wäre Arbetio gegenüber unhöflich gewesen. Er hatte immerhin alles riskiert, um uns zu helfen. Ich erinnerte mich an die letzten Reste meiner Erziehung, ließ Athanaric fahren und trat einen Schritt zurück. Dann mußte ich mich ganz rasch setzen: Von all der Aufregung und vom vielen Reiten zitterten mir die Knie. Athanaric ergriff meine Hände: