»Geht es dir nicht gut?« fragte er besorgt.
»Ich bin ein bißchen viel geritten«, antwortete ich, »aber mir ist es noch nie so gutgegangen in meinem Leben.« Und ich saß da und lächelte Athanaric an, und er stand da und hielt meine Hände und lächelte mit einem überwältigenden Ausdruck im Gesicht zurück.
»Ihr solltet etwas essen«, meinte Arbetio und versuchte entschlossen, uns wieder in die normale Welt zurückzuholen. Sofort half Athanaric mir und führte mich zur Feuerstelle. Sie hatten einen Eintopf mit etwas geschmortem Fleisch, ein paar Zwiebeln und etwas Suppenkraut aus dem Garten des Hauses zubereitet. Es gab keine Eßnäpfe, deshalb kauerten wir uns um den Eintopf herum und stippten unser Brot hinein. Athanaric hielt sein Brot in der Hand, saß da und sah mich an, aber jetzt, da der Eintopf vor mir stand, war ich heißhungrig. Ich stippte mein Brot hinein und aß, obwohl ich Athanaric dabei die ganze Zeit über ansehen mußte, um sicherzugehen, daß er kein Traum war. Arbetio warf uns einen Blick zu, dann lachte er. »Das hätte ich niemals von dir gedacht, Chariton«, sagte er. »Du und verliebt?«
Ich schluckte meinen Bissen herunter. »Was ist daran so schlimm?«
»Nun«, sagte Arbetio. »Die Liebe ist offensichtlich ein mächtiger Gott, da sie es fertigbringt, daß zwei intelligente Leute einen so törichten Eindruck machen.« Wir starrten ihn beide verständnislos an, und er grinste. »Vorzügliche Chariton – Charis – ich befehle dir hiermit, daß du dein Abendessen beendest und schlafen gehst. Du mußt etwas zu dir nehmen und dich ausruhen: Wir haben noch einen ganzen Tagesritt vor uns.«
21
In jener Nacht hielten mich die Qualen der Begierde jedenfalls nicht wach: Ich war ganz einfach zu erschöpft. Als ich aufwachte, empfand ich noch mehr Glück, aber auch mehr Muskelkater als am Morgen zuvor. Wir hatten ein äußerst vergnügtes Frühstück und machten uns auf den Weg. Athanaric sah so aus, als hätte er nicht ganz so gut geschlafen wie ich, aber auch er war glänzender Laune und fing beinahe sofort an, von unserer Hochzeit zu sprechen.
»Wir werden damit warten müssen, bis wir alle notwendigen Vereinbarungen mit deinem Bruder getroffen haben«, meinte er.
»Wirklich?« fragte ich und hielt nicht viel von dieser Vorstellung. Eigentlich fühlte ich mich bei dem Gedanken, Athanaric zu lieben, glücklicher als bei dem Gedanken, ihn zu heiraten. Aber er würde wohl darauf bestehen, daß bis zu unserer Hochzeit alles ehrbar und schicklich zuging. Wenn eine Leidenschaft ihre Erfüllung findet, ist das eine Sache, eine ganz andere aber ist es, eine Hochzeit mit all den finanziellen Abmachungen und gesetzlichen Regelungen zu arrangieren.
»Es muß alles offiziell und ehrbar sein«, erklärte Athanaric mit Nachdruck. »Nachdem alles so unkonventionell angefangen hat, brauchen wir soviel offizielle Bestätigung wie irgend möglich.«
»Verdammte Ehrbarkeit.«
»›Rumoresque senum severiorum, omnes unius aestimemus assis! Da mi basia mille!‹«
»Zur Hölle mit der Ehrbarkeit, und lieber tausend Küsse für dich? Nur allzugern. Von wem ist das?«
»Von Sebastianus’ Lieblingsdichter. Von Catullus.«
»Vielleicht sollte ich doch noch lateinische Dichter lesen.«
»Ach, am Ende verlor sie die Ehrbarkeit, und er verlor sie. Wir brauchen den offiziellen Status. Ich möchte nicht, daß ihn hinterher jemand in Frage stellt, auch nicht mein eigener Vater, falls er sich dazu entschließt, wie ein Trottel zu reagieren. Außerdem wirst du deine gesamte Mitgift brauchen, wenn du ein Hospital gründen willst.«
Das leuchtete mir ein. Ich würde über meine Mitgift verfügen können, und die Anregung, damit ein Hospital zu gründen, stammte dann von ihm. Ich lachte und versuchte, mir ein eigenes Hospital vorzustellen.
»Wir werden eine durch und durch ehrbare Hochzeit feiern, mit dem Segen der Kirche. Und auf den heidnischen Brauch, die Braut wie eine Gefangene fortzukarren, können wir verzichten. Wir werden sehr feierlich zum Altar schreiten und im Namen der heiligen Dreifaltigkeit und der göttlichen Heilkunst und des Sankt Hippokrates geloben, einander ewig zu lieben. Und dann werde auch ich den Eid des Hippokrates schwören.«
»Warum denn das?«
»Damit du mir nichts mehr voraushast. Wie lautet er doch?
›Ich werde meine Kunst dazu benutzen, zu heilen und niemandem zu schaden, ich werde keusch sein…‹«
»Nun übertreibst du aber!«
»Keine Angst. Dann werden wir nach Hause gehen. Ich nehme irgendwo eine Dauerstellung mit einem festen Standort an, und du bekommt dein Hospital. Wir werden ein großes Haus haben und werden es alle beide jeden Morgen verlassen, um unserer Arbeit nachzugehen.«
»Und meine Maia wird unsere Haushälterin sein«, spann ich den Faden weiter und fing an, mich darauf zu freuen. »Deine Maia? Hast du irgendwo noch ein altes Kindermädchen?« Ich erzählte ihm von Maia und wie sehr sie sich immer gewünscht hatte, für meine Kinder die Großmutter zu spielen.
Athanaric lachte. »Wir werden Kinder haben!« rief er begeistert aus. »Die Jungen können in den Staatsdienst treten, und die Mädchen können von ihrer Mutter die Heilkunst erlernen.«
»Und was ist, wenn die Jungen die Heilkunst erlernen wollen?«
»Ich glaube, ich würde es erlauben.«
»Und was ist, wenn die Mädchen in den Staatsdienst treten wollen?«
»Ich werde ihnen sagen, sie sollen sich die Haare abschneiden und sich als Eunuchen verkleiden.«
Ich lachte. »Und wo wollen wir uns niederlassen, um eine solche Familie aufzuziehen?«
»Armenien? Alexandria? Ephesus? Rom? Wir haben das ganze Kaiserreich zur Auswahl. Es wartet nur auf uns.« Er schwang seinen Arm einmal herum, nach Osten und Süden und Westen, als wolle er das wüste und ausgestorbene thrazische Land fortwischen und mir die große, strahlende, glitzernde Welt zu Füßen legen. Übermütig lachte ich erneut, und Athanaric und Arbetio lachten ebenfalls. Die Welt gehört uns, dachte ich. Die ganze Welt gehört uns.
Am späten Nachmittag jenes Tages erreichten wir Novidunum.
Ich war völlig erschöpft, und der Himmel verdunkelte sich, da ein Sturm heraufzog. Das Land um uns herum lag ruhig und verlassen da: flache, grüne und gelbe Weiden, brachliegende Felder und verwaiste Häuser, der Gesang der Zikaden in der heißen, schwülen Luft. Aber im Nordosten zogen bereits schwarze Gewitterwolken am Horizont auf. Endlich zügelte Arbetio sein Pferd und deutete nach vorn. In der Ferne ragten die Mauern Novidunums auf, türmten sich schroff über dem flachen Land empor und hoben sich gegen den dunkler werdenden Himmel ab. Trotz meiner Erschöpfung stieß ich einen Jubelruf aus, und wir trieben unsere müden Pferde zu einem raschen Trab an.
»Mit ein wenig Glück«, meinte Arbetio, »werden wir in dem Augenblick zu Hause sein, da der Sturm losbricht.«
Seit dem frühen Nachmittag waren wir auf der Hauptstraße in Richtung Norden geritten. Das Land um uns herum lag eben und offen da, so daß wir keinen Hinterhalt befürchten mußten. Jetzt sahen wir zum erstenmal, seit wir Carragines verlassen hatten, auf den Feldern grasende Kühe und Pferde, bewohnt aussehende Häuser: Falls die Goten hier angriffen, konnten ihre Bewohner in der Festung Schutz suchen.
Als wir nahe genug heran waren, um auf den steil aufragenden Mauern einzelne Gestalten ausmachen zu können, lenkte Athanaric sein Pferd von der Straße weg zu einem Apfelbaum in einem Obstgarten. Er schnitt ein paar grüne Zweige ab und händigte sie jedem von uns aus. »Auf diese Weise verstehen sie in der Festung, daß wir in friedlicher Absicht kommen«, sagte er. »Wir wollen schließlich nicht von unseren eigenen Leuten getötet werden.« So ritt ich also, meinen grünen Zweig zum Zeichen des Friedens in die Höhe haltend, wieder in die Festung ein, die ich anderthalb Jahre zuvor so sorglos verlassen hatte. Die Wachen standen mit erhobenen Schildern und wurfbereiten Lanzen auf ihrem Wachturm, und einer von ihnen forderte uns mit lauter Stimme auf, das Losungswort zu nennen.