»Wir kennen es nicht«, erwiderte Athanaric mit vernehmlicher Stimme und hob seine Hände zum Zeichen dafür, daß wir in friedlicher Absicht kamen. »Wir sind vor den Goten aus Carragines geflohen. Ich bin Athanaricus von Sardica, Curiosus der Agentes in rebus.« Er hielt sein Beglaubigungssiegel an der Kette in die Höhe. »Dies ist Arbetio, der Chefarzt dieser Festung. Und dies ist die Dame Charis, Tochter des Theodoros von Ephesus.«
Sie hatten allesamt zu uns heruntergesehen und Arbetio erkannt. Doch sobald Athanaric meinen Namen nannte, wandten sie ihre Aufmerksamkeit mir zu. Rufe ertönten, dann übermütiger Jubel. Jemand rannte herbei, um das Tor zu öffnen; die großen, eisenbeschlagenen Flügel schwangen auf, und wir ritten in die Festung ein. Ein Windstoß zerrte an den Torflügeln, als die Wachen sie hinter uns schlossen, und die ersten Regentropfen klatschten dick und schwer an den sicheren Schutz der Mauern. Und ein langes Lebewohl dir, Thrazien, dachte ich im stillen. Von hier aus werde ich mit dem Schiff den Fluß hinunter segeln und dann hinaus auf das Schwarze Meer, wo es keine Barbaren gibt.
Die Soldaten der Festung umringten uns. Jetzt konnte ich sehen, daß sie fast alle Rekonvaleszenten waren: Sie humpelten oder waren von Krankheilen ausgemergelt, einige hatten einen Arm in der Schlinge, andere liefen mit bandagiertem Brustkorb, Kopf oder Oberschenkel herum. Aber sie lachten und riefen uns fröhliche Willkommensgrüße zu. »Charis von Ephesus!« ertönte es. »Von den Goten geschnappt!«
»Und das hier für Frithigern!« schrie einer und machte eine obszöne Geste; sein Nachbar knuffte ihn in die Seite: »Denk daran, daß sie eine Edelfrau ist.« Mehrere ergriffen die Zügel meines Pferdes, und ich glitt schnell von ihm herunter und zog meine Röcke glatt. Ich brauchte den Anblick meiner geschundenen Beine ja nicht unbedingt der gesamten Festung zu bieten. Die Männer umringten mich, lachten, und ich fühlte mich ein wenig schwindelig; die Knie zitterten mir vor Müdigkeit. Ich klammerte mich an den Sattel meines Pferdes und lächelte etwas matt zurück. Athanaric lenkte sein Pferd in die mich umringende Menge.
»Tretet zurück!« rief er. »Die Dame braucht ein wenig Ruhe. Laßt sie durch, damit sie in ihr Haus gehen kann – aus dem Wege, ihr da!«
Ein wenig unsicher wichen sie zur Seite und liefen ziellos herum, dann rief jemand: »Antreten! Formiert euch!« Und im Nu stellten sie sich auf und nahmen Haltung an. Der Tribun Valerius eilte durch die Reihen. Seine Blicke überflogen die Menge, glitten über mich hinweg und blieben auf Athanaric haften. »Edler Athanaric!« rief er ungeduldig. »Hast du irgendwelche Nachrichten? Hat man den Kaiser gefunden? Sind unsere Leute gerettet? Ist Heerführer Sebastianus noch am Leben?«
Athanaric blickte verständnislos auf ihn. »Ich bin in einer privaten Mission hier. Was soll das heißen, ob man den Kaiser gefunden hat?«
Valerius blieb stehen und sah ihn bestürzt an. Ein Windstoß zerrte an seinem scharlachroten Umhang, ließ die Helmbüsche der Soldaten aufflattern und ein paar weitere Regentropfen prasselten herunter. »Hast du denn nichts gehört?« fragte er.
»Gehört, was?« fragte Athanaric zurück; dann drängender:
»Was ist passiert?«
»Die Barbaren haben einen großen Sieg bei Hadrianopolis errungen«, erzählte Valerius schwerfällig, und die Hoffnung schwand aus seinen Augen. »Der Kaiser wird vermißt, wahrscheinlich ist er tot. Und der größte Teil der Armee ebenfalls. Der Rest wird in Hadrianopolis von den Goten belagert. Ich hatte gehofft, du bringst bessere Nachrichten.«
Athanaric stieß einen Schrei tiefen Schmerzes und erschrockener Betroffenheit aus. Meine zerschundenen Beine weigerten sich, mich länger zu tragen, und knickten unter mir weg. Ich setzte mich auf den nackten Boden und fühlte mich krank und schwach. Athanaric sprang von seinem Pferd; die Ordnung der Soldaten geriet durcheinander, und sie umringten ihn, aber er scheuchte sie zur Seite und kniete neben mir nieder.
»Es geht mir gut«, beruhigte ich ihn. »Es sind nur die Beine, von dem vielen Reiten.«
Valerius tauchte vor uns auf und starrte erstaunt auf mich herunter.
»Chariton!« rief er aus. »Wie um alles auf der Welt…«
»Athanaric und Arbetio haben mich aus den Händen der Goten befreit«, berichtete ich.
»Arbetio? Er wurde vermißt; ich dachte schon, er sei desertiert.«
»Nein. Er war nur damit beschäftigt, eine römische Frau aus den Händen der Barbaren zu retten. Er hat all meine Dankbarkeit verdient, und ich bin sicher, auch diejenige meines Bruders, des Statthalters Theodoros, sowie die meines Freundes, des Heerführers Sebastianus. Ich hoffe, daß du, edler Valerius, seine einwöchige unerlaubte Entfernung gütigst übersehen wirst. Ich bin sehr müde. Mit deiner Erlaubnis werde ich mich in mein Haus zurückziehen und ein wenig ruhen.«
Valerius sah mich mit offenem Mund an, dann trat er einen Schritt zurück und nickte hilflos.
Athanaric half mir auf die Beine, und ich humpelte davon, wobei ich mich auf ihn stützte. Arbetio ließ seinen Patienten stehen und folgte uns. Irgend jemand, dachte ich bei mir, wird sich schon um die Pferde kümmern. Plötzlich gab es einen heftigen Blitzschlag, und es fing an zu regnen.
Bis wir bei meinem Haus waren, hatte sich die Nachricht von unserer Ankunft bereits durch die ganze Festung verbreitet und die Hälfte ihrer Einwohner folgte uns ungeachtet des inzwischen heftig niederströmenden Regens. Ich war froh, das Haus zu erreichen. Es war das neue Haus, das ich kurz vor meiner Gefangennahme gekauft hatte, und mein gesamter Hausstand wartete vor der Tür auf uns: meine Sklaven, Raedagunda und Sueridus, Gudrun, die das Baby auf dem Arm hielt (inzwischen war es bereits ein recht großes Baby), und Alaric (auch er war ganz schön gewachsen). Dazu eine kleine, rundliche, blonde Frau, die die Schlüssel an ihrem Gürtel trug. Ich war ihr nur ein paarmal begegnet, aber ich wußte, es war Arbetios Frau. Sie umarmte ihren Mann, ließ uns alle herein und schloß die Tür hinter uns. Ich setzte mich auf die Bank neben der Tür und lehnte mich an die Wand. Das Wasser rann mir die Haare herunter ins Gesicht und in die Augen, deshalb schloß ich sie. In der Dunkelheit hinter den geschlossenen Lidern sah ich das Land rund um Hadrianopolis, sah die Drachen und Adler der untergehenden Standarten und den blutbefleckten, kaiserlichen Purpur. Ich öffnete die Augen. Arbetios Frau stand vor mir und machte einen besorgten Eindruck.
Ich versuchte zu lächeln. »Sei gegrüßt, Irene. Es ist schön, zu Hause zu sein.«
Sie verbeugte sich. »Ja, vortreffliche Charis. Geht es der erlauchten Dame gut?«
»Ich bin sehr müde. Du hast die Zimmer nach meiner Gefangennahme sicherlich umgeräumt; kannst du mir bitte sagen, welches ich benutzen kann? Ich muß ein wenig ruhen.«
Ich raffte mich auf und stand tropfnaß auf dem mit Steinfliesen ausgelegten Küchenfußboden. Athanaric stand da und beobachtete mich, er war sehr blaß. »Liebster«, sagte ich, »bitte sei mein Gast heute nacht. Geh noch nicht ins Präsidium.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich muß die Neuigkeiten hören. Und ich sollte im Präsidium schlafen; es würde sich nicht schicken, hierzubleiben.«
Ich seufzte und blickte auf den Fußboden. »Dann komm wenigstens zum Abendessen.«
»Das will ich tun.« Er zog sich das eine Ende seines Umhangs über den Kopf und trat wieder in den Regen hinaus. Ich blickte hinter ihm her, biß mir auf die Zunge, dann torkelte ich ins Bett.
Ich schlief ein, während der Donner über den Dächern widerhallte. Als ich aufwachte, hörte ich nur noch den Regen, der stetig und prasselnd auf das Dach schlug. Es war inzwischen ziemlich dunkel, und ich lag da, ohne mich zu rühren, und starrte in die Finsternis. Bevor ich auf das Bett gesunken war, hatte ich meinen nassen Umhang und die Tunika abgestreift: Das Bettzeug fühlte sich weich an auf meiner Haut. Der Kaiser wurde vermißt, wahrscheinlich war er tot. Der Erhabene Gebieter, unser edler Valens, der Augustus und Herr der Welt, tot, gefallen im Kampf gegen die Goten. Ich hatte viele seiner Diener und Günstlinge gehaßt, ich hatte seine Politik gehaßt, und ich hatte manchmal geglaubt, ihn ebenfalls zu hassen. Aber als ich von seinem Tod hörte, fühlte ich nur Schmerz. Der Mensch spielte keine Rolle. Er war der Kaiser, er hatte den geheiligten Purpur getragen, hatte die Welt, in der ich lebte, beherrscht, und sein Tod ließ den Staat ziel und kopflos zurück. Er war nicht der erste Kaiser, der im Kampf gegen die Barbaren fiel, selbst im Verlaufe meines Lebens, aber er war der erste, an den ich mich erinnerte. Julian war mitten während seines Feldzuges gegen die Perser getötet worden. Ich war damals noch ein kleines Mädchen. Aber er hatte keine von den barbarischen Horden überrannte römische Diözese hinterlassen und keine dahingeschlachtete oder in alle Winde zersprengte Armee. Natürlich blieb immer noch der westliche Augustus, der Erhabene Gratianus, der jetzt mit seinen gallischen Legionen auf dem Weg zum Kriegsschauplatz war; und es gab noch weitere Truppen im Ostreich – an der persischen Front, in Ägypten und Palästina. Es war unwahrscheinlich, daß die Barbaren außer Thrazien noch weitere Gebiete erobern würden. Obwohl sie durchaus weiteres Land verheeren konnten. Konstantinopel, die strahlende Königin des Bosporus, die reichste Stadt des Ostreichs, lag im äußersten Südosten der Diözese. Ob die Barbaren es einnehmen konnten, war ungewiß, aber sie würden es sicherlich versuchen.