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»Wir kennen diese Sitte bei uns ebenfalls«, sagte Vater und der Wein ließ seine Wangen erglühen. »Charis! Meine Liebe, steh auf und rezitier uns etwas!«

Widerwillig stand ich auf. Ich hatte nicht viel Wein getrunken, denn die Sklaven hatten mein Glas nicht so wie diejenigen der Männer dauernd nachgefüllt. Alle starrten mich an. Pythions Frau lächelte mir aufmunternd zu. Festinus entblößte seine Zähne, und für einen Augenblick vergaß ich all meine Lektionen, mein Kopf war völlig leer. Natürlich hatte ich einige Passagen auswendig gelernt: Jeder muß Stücke von Homer und aus den Tragödien auswendig lernen. Aber alles, was mir jetzt einfiel, war: »Sing, Göttin des Zorns«, was schon eine Vierjährige aufsagen kann – dies und ein paar Sätze von Hippokrates über die Behandlung von Wunden. Dann fiel mir plötzlich die Tragödie von Euripides ein, die wir heute morgen gelesen hatten, und ich zitierte eine Stelle daraus. Es war der Schlußchor aus den Troerinnen, in dem die Frauen ihren Tod und die Zerstörung ihrer Stadt beklagen, bevor die Griechen sie in die Sklaverei fortschleppen:

Eine Rauchfahne verliert sich in der Luft, Ist schon vergangen: Es gibt kein Troja mehr. Gehen wir also mit müden Beinen; Unten im Hafen warten die griechischen Schiffe.

Als ich etwa die Hälfte aufgesagt hatte, merkte ich, daß es nicht sehr taktvoll war, etwas dieser Art zu zitieren. Alle sahen mich etwas merkwürdig an, und Vater machte erneut einen besorgten Eindruck. Obwohl es niemand zugeben würde, brachte doch jedermann das Plündern von Städten irgendwie mit Festinus in Verbindung. Und es lag zumindest in der Luft, daß Festinus beabsichtigte, mich fortzuschleppen. Nun, jetzt war es zu spät, damit aufzuhören.

Ich kam zum Ende und setzte mich. »Das war ja ganz entzückend, Liebling«, sagte Pythions Frau. Sie war wirklich sehr nett.

»Wir haben es gerade heute morgen gelesen«, sagte ich, um die strengen Blicke etwas zu beschwichtigen. Ich blickte starr auf den Fußboden.

Thorion stieß mich an. Ich sah ihn an und bemerkte, daß er grinste. »Du hast keinen Zweifel daran gelassen, was du von ihm hältst«, flüsterte er mir zu. »Gott und seine Heiligen, sieh ihn dir an, wie er versucht, das Thema zu wechseln!«

Festinus wechselte tatsächlich das Thema und kam auf das Theater zu sprechen, und während der folgenden Fisch und Fleischgänge wurde nur noch darüber gesprochen. Dann machte Vater den Vorschlag, sich zu erheben und vor den Süßspeisen und Früchten ein wenig in den Gärten zu lustwandeln, und alle stimmten zu. Nach all dem Wein wollte jeder die Latrinen benutzen.

Ich benutzte die Latrine auf der Frauenseite des Hauses, dann setzte ich mich in den ersten Innenhof neben den Brunnen, um auf Thorion zu warten. Plötzlich betrat Festinus den Hof. Er war allein. Da er mich sofort entdeckte, hatte es keinen Zweck, sich verstecken zu wollen. Ich faltete meine Hände, legte sie in den Schoß und saß ganz still da.

»Edle Charis«, sagte Festinus und trat auf mich zu. Einen Augenblick lang stand er ganz still und sah auf mich herunter. Ich blickte auf den Fußboden. Er stöhnte und setzte sich neben mich, so nah, daß ich die Hitze seines Körpers spüren und seinen weinschweren Atem riechen konnte. »Was hast du damit sagen wollen, als du diesen Abschnitt aus Euripides zitiert hast?«

Ich versuchte, ein wenig von ihm wegzurücken. »Nichts, erlauchter Festinus«, erwiderte ich. Ich war der Meinung (und ich dachte da genau wie Maia), es sei sehr ungehörig für einen Mann, so ganz allein mit der unverheirateten Tochter seines Gastgebers zu sprechen. »Ich habe die Tragödie heute morgen mit meinem Hauslehrer Ischyras gelesen, und es war alles, woran ich mich im Augenblick erinnern konnte.«

Er lachte, rückte näher an mich heran und legte eine seiner Hände schwer auf meine Schulter. »Ist das alles?« fragte er. »Du magst mich nicht, nicht wahr?«

Ich sah ihn nicht an. Es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte ich herausgeschrien: »Du hast meine Amme und einige meiner Freunde foltern lassen!« Aber er war schließlich immer noch Statthalter. Und wenn er wirklich so grausam war, ließ er sie vielleicht alle noch einmal foltern. »Erlauchter Festinus, ich bin ein junges Mädchen und viel zu jung, um mir eine Meinung erlauben zu können. Außerdem kenne ich Eure Erhabenheit doch gar nicht.«

Er lachte und legte mir den Arm um die Schultern. Ich saß ganz still da, preßte meine Hände zusammen, so wie Vater es getan hatte, um sie daran zu hindern, zu zittern. »Ich bin kein Erhabener«, sagte er. »Noch nicht, jedenfalls.« Er faßte mich mit seiner anderen Hand am Kinn und drückte meinen Kopf herum, so daß ich ihn ansehen mußte. Das Licht der Lampen in dem Wagenlenkerzimmer schien in den Hof hinaus und erhellte sein Gesicht. Die Grillen zirpten, und der Brunnen machte ein sanft gurgelndes Geräusch. Sein Gesicht, dachte ich, ohne wirkliches Interesse, wies eine Menge dieser geplatzten Äderchen auf, die Ursache von zu vielem Trinken sind. Sie verliehen seinem Gesicht einen groben Ausdruck, der sich im Lauf der Jahre ohne Zweifel noch verstärken würde. Er sollte nicht soviel trinken und mehr Brot essen. »Vielleicht werde ich irgendwann ein Erhabener sein«, meinte er und leckte seine fleischigen Lippen. »Ich stehe in der Gunst des Kaisers. Er weiß, daß ich ihm eifrig diene. Noch vor fünfzehn Jahren war ich niemand besonderes. Jetzt bin ich ein Spectabilis, Statthalter von Asien im Rang eines Prokonsuls, Freund unseres Erhabenen Gebieters. Du haßt mich, weil mein Vater Sklaven versteigert hat, oder?«

»Nein«, sagte ich. »Das wußte ich gar nicht.«

Die Hand, die meine Schultern umfaßt hatte, schob sich unter die Tunika. Ich keuchte, und er preßte seinen Mund auf den meinen. Ich bekam keine Luft mehr. Er betastete meine Brüste, knetete sie brutal. Ich konnte nicht schreien, seine Zunge war plötzlich in meinem Mund. Ich versuchte, zuzubeißen, doch er schob seine Finger zwischen meine Kiefer und zwang mich so, meinen Mund offen zu halten. Ich stieß ihm meinen Ellenbogen zwischen die Rippen und trat nach ihm, aber er drehte nur seinen Kopf weg und lachte. In seinem Gesicht waren Schweißperlen zu sehen. Seine Hände blieben dort, wo sie waren. »Das soll dir eine Lehre sein, nicht zu lügen«, sagte er. »Du haßt mich tatsächlich; ich spüre so etwas. Du bist wirklich sehr schön mit diesen großen, dunklen Augen. ›Vitas inuleo me similis, Charis‹ – du gleichst wirklich einem Hirschkalb.« Wieder lachte er. »Ja, ich glaube, ich werde mit deinem Vater über dich sprechen. Wie dein kleines Herz schlägt!«

Alles, was ich sagen konnte war: »Du tust mir weh, laß mich gehen!« Er nahm seine Hand aus meiner Tunika. Ich sprang auf und versuchte, nicht zu weinen. Ich war völlig verstört. Niemand hatte mich jemals zuvor berührt, und ich hatte mir niemals gewünscht, daß es jemand versuchte, nicht einmal im Traum. All das gehörte zu der anderen Charis, der lieblichen jungen Dame im Spiegel. »Ich will nichts mit dir zu tun haben«, sagte ich zu Festinus. Meine Stimme klang überraschend beherrscht: Es war nicht die Stimme der jungen Dame, es war meine. Aber seine Hände hatten auch nicht das Bild im Spiegel berührt; sie hatten mir weh getan. »Es hat nichts damit zu tun, wer dein Vater war. Ich hasse Grausamkeit, und du liebst sie. Du solltest mit dem Vater einer anderen sprechen.«

Er entblößte seine Zähne und lachte, und ich lief hinaus und ging in mein Zimmer. Dort saß Maia und nähte. Sie blickte überrascht auf, als ich hereinkam. »Das Abendessen ist doch noch gar nicht vorbei, oder?« fragte sie.

»Nein«, sagte ich und brach in Tränen aus.

Als Thorion eine halbe Stunde später kam, saßen Maia und ich auf ihrem Bett, und Maia wiegte mich immer noch in ihren Armen und summte leise dazu, als sei ich ein kleines Kind. Ich hatte zu weinen aufgehört, kämpfte jedoch mit einem Schluckauf.