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Die Tatsache, daß sich alle Welt mir gegenüber plötzlich so entgegenkommend zeigte, bedeutete, daß ich die Möglichkeit hatte, ein paar weitere medizinische Texte zu lesen. Ischyras willigte darin ein, Euripides beiseite zu legen und das Gedicht des Nikandros über Arzneimittel zu lesen. Jedesmal, wenn ich meinen Hauslehrer sah, schämte ich mich sehr: Ich war inzwischen fest entschlossen, seinen Namen in meinen Plänen zu verwenden, aber ich wollte den Mann natürlich nicht selbst mit hineinziehen. Ich machte mir Sorgen, daß ihm meine Flucht eines Tages vielleicht Ärger machen könne, aber ich tröstete mich mit der Gewißheit, daß ich, falls es je soweit käme, immer noch sagen könnte, er wisse nichts davon.

In jenem Winter las ich endlich auch Galen. Maia nahm ihre Ersparnisse mit auf den Markt hinunter und kaufte mir eine Kopie seines Werkes über die Anatomie. Es war das schönste Buch, das ich je gesehen hatte: nicht etwa eine Schriftrolle, sondern ein großer, schwerer Kodex aus Pergament, nicht aus Papyrus. Er hatte wunderschöne Illustrationen in roter und schwarzer Tinte und war mit winziger, jedoch deutlich lesbarer Handschrift geschrieben. Am Rande befanden sich erläuternde Kommentare. Er mußte ein Vermögen gekostet haben. Ich sagte Maia, ich würde ihr das Geld zurückzahlen, aber das lehnte sie strikt ab.

Noch ein anderer der Sklaven war sehr nett zu mir: Es war Philoxenos. Er hatte ebenfalls schlechte Erfahrungen mit Festinus gemacht. Jedesmal, wenn er mich sah, setzte er eine betrübte Miene auf, und ich hätte ihm fast gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, ich würde den Statthalter gar nicht heiraten. Er versprach mir das erste Fohlen, das seine Zuchtstute zur Welt bringen würde, und sagte mir, ich solle ihn rufen, wann immer ich seine Hilfe benötigte: eine wirklich erstaunlich hochherzige und mutige, wenn auch unbesonnene Äußerung! Und er verriet mir seine eigenen, sorgfältig notierten Rezepte für verschiedene Pferdekrankheiten, die er unbeholfen zwischen die Zeilen eines pergamentenen Kochbuchs geschrieben hatte, die jedoch samt und sonders vernünftig und wirklich brauchbar waren.

Wir wußten, daß wir bei unseren Vorbereitungen beträchtliche Sorgfalt walten lassen mußten. Jeder, den wir einweihten, könnte gefoltert und streng bestraft werden, falls man ihm auf die Spur kam. Thorion würde sehr wahrscheinlich verdächtigt werden, mich irgendwo zu verstecken, doch das Schlimmste, was er zu fürchten hatte, war der Entzug seines Taschengeldes und die Feindschaft von Festinus. Um letzteres zu vermeiden, entschloß sich mein Bruder dazu, Ephesus zu verlassen. Er strebte ein Amt bei Hof sowie einen ordentlichen Titel im Rechtswesen an, und beides konnte er in Konstantinopel erwerben. Vater schrieb Briefe an all seine alten Freunde, die in der Hauptstadt wohnten und zahlte schließlich achtzig Solidi, um Thorion eine untergeordnete Stellung im Amt des Prätorianerpräfekten zu verschaffen. Diese war nur mit leichten Pflichten bei der Bearbeitung von Steuerabgaben verbunden. Die Abmachungen, die Rechte zu studieren, waren sehr viel billiger und leichter zu treffen, da sie lediglich Gebühren kosteten und keine Bestechungsgelder.

Nach Weihnachten fingen wir an, ernsthafte Vorbereitungen zu treffen, und Mitte der Fastenzeit hatten wir alles geschafft. Inzwischen dachten die Schiffsherren wieder daran, ihre Segel zu setzen: Es herrschte klares Frühlingswetter, sehr mild mit einer leichten Brise, vorzugsweise aus Nordost – die besten Winde für Alexandria. Thorion fand ein Schiff, das den Hafen Mitte April verlassen sollte. Es trug den Namen Halcyon, der Eisvogel, vorne am Bug. Es war ein ziemlich großes Schiff, und es sollte Bauholz sowie ausgesuchte Luxusgüter laden, hatte jedoch auch Platz für einige Passagiere. Der Eigner war bekannt in Ephesus, stammte selbst jedoch nicht von dort. Man hielt ihn allgemein für ehrlich, er würde aber nicht genug über die Stadt wissen, um Verdacht schöpfen zu können, wer ich wirklich war. Thorions Name sagte ihm nicht viel. Thorion buchte eine Passage für mich und bezahlte die Hälfte des Fahrpreises im voraus. Ich würde den Rest bezahlen, sobald wir in Alexandria anlegten.

Alexandria! Die Stadt der alten Könige, die Stadt der Gelehrten, die Stadt, die einmal die größte der Welt war und immer noch die größte des Ostreichs ist, trotz all des Glanzes von Konstantinopel. Ein Arzt kann keine bessere Empfehlung vorweisen, als zu sagen: »Ich habe in Alexandria studiert.« Und ich würde dort hingehen: Ich, Charis, die Tochter des Theodoros, würde die große Bibliothek benutzen und in dem berühmten »Museum« studieren, wo auch Herophilos und Erasistratos und Nikandros und sogar Galen studiert hatten! Ich machte mir keine Gedanken mehr darüber, was meiner Familie in Ephesus zustoßen könnte, ich träumte nur noch von Alexandria. Ich stellte mir die Halcyon vor, wie sie in den Großen Hafen einlief, und sah die Stadt weiß und strahlend aus dem Meer auftauchen, beschienen von den Feuern seines berühmten Leuchtturms, des Pharos, der eines der Wunder dieser Welt darstellte – aber an Alexandria war alles wundervoll. Ich schämte mich vor mir selbst, vor allem, wenn ich an Maia dachte, aber ich konnte es gar nicht mehr abwarten, fortzukommen. Maia wollte mich begleiten. »Du wirst jemanden brauchen, der sich um dich kümmert«, erklärte sie mir. »Jeder, der irgend etwas darstellt, hat zumindest einen Sklaven. Und du weißt doch gar nicht, wie du für dich selbst sorgen sollst, mein Liebling! Außerdem wirst du jemanden brauchen, dem du vertrauen kannst. Was würde wohl passieren, wenn du dich darauf verläßt, nach deiner Ankunft in Alexandria jemanden zu kaufen? Wen auch immer du kaufst: innerhalb von einer Woche würde dieser Mensch herausfinden, daß du in Wirklichkeit ein Mädchen bist, und dann könnte er dich erpressen und alles von dir bekommen, was er will! Nein, ich komme mit dir.«

Aber ich weigerte mich, sie mitzunehmen. Ich erklärte ihr, daß ich mir wegen ihrer Gesundheit während der Seereise Sorgen machte, und in der Tat hatte sie, seitdem sie gefoltert worden war, des öfteren starke Gelenkschmerzen. Deshalb glaubte ich auch nicht, daß ihr Schiffe und billige Unterkünfte besonders gut tun würden. Ich sagte ihr, ich sähe es nicht gerne, wenn man sie für eine davongelaufene Sklavin halten und mich selbst eine Diebin schimpfen würde: Vor dem Gesetz war sie das Eigentum meines Vaters. »Ich möchte dich gesund und munter wiedersehen, wenn ich zurückkomme«, sagte ich ihr. »Ich würde es mir niemals verzeihen, falls du krank werden und sterben solltest, während du mir überallhin folgst.«

Aber das war noch nicht alles. Maia verabscheute meine Verkleidung nach wie vor. Ich wollte sie nicht zu sehr quälen, indem ich sie merken ließ, wie sehr ich diese Verkleidung genoß. Sie liebte das feine Benehmen, das Gefühl, zu einem großen Haus zu gehören und einer vornehmen Dame zu dienen. Was würde passieren, wenn ich sie in eine große Stadt mitnähme, wo ich als armer Student leben, mich in irgendeiner Wohnung einquartieren und bis spät in die Nacht hinein arbeiten würde? Wenn ich nur eine unter vielen wäre? Sie würde kreuzunglücklich sein und immer daran denken, wer wir einmal gewesen waren, und die Gegenwart hassen. Und ich würde unglücklich sein, wenn sie es war, das wußte ich genau. Und konnte ich ihr wirklich vertrauen? Auf ihre Treue konnte ich mich natürlich verlassen, aber konnte ich auch darauf bauen, daß sie den Nachbarn und Ladenbesitzern gegenüber keine Andeutungen machen würde, wir wären etwas Besseres, als es den Anschein habe, und daß sie, wenn sie nur wollte, ihnen erzählen könne… Sie würde es ihnen nicht erzählen. Doch sie würde den Wunsch verspüren, die Leute etwas vermuten zu lassen. Und wenn meine Verkleidung Erfolg haben sollte, dann konnte ich niemanden gebrauchen, der etwas vermutete oder ahnte. Ich mußte alles ändern: die Art, wie ich ging, die Art, wie ich saß – keine niedergeschlagenen Augen und gefalteten Hände mehr –, die Art, wie ich sprach. Das würde wohl das Schwierigste sein: immer daran zu denken, bei den Adjektiven die männliche Form zu benutzen, wenn ich von mir selbst sprach. Sonst würde mich jeder kleine Satz, wie zum Beispieclass="underline" »Ich bin hungrig« verraten. Wahrscheinlich wäre es besser, überhaupt keinen Sklaven zu haben und lieber jemanden dafür zu bezahlen, bei mir sauber zu machen und für mich zu kochen. Maia konnte mit Thorion nach Konstantinopel gehen.