Die Pferde hatten zu traben aufgehört und standen mit zur Erde gesenkten Köpfen da. Sie schnüffelten in dem Kies nach vereinzelten Strohbüscheln. Philoxenos wandte sich ihnen erneut zu; er knallte mit seiner Peitsche und riß heftig an der Führungsleine. Die beiden setzten sich in Bewegung – allerdings in verschiedene Richtungen. Philoxenos fluchte und zwang sie, wieder gemeinsame Sache zu machen. Er redete ihnen gut zu und lockerte die Zügel, bis sie endlich einträchtig im Kreis herumtrabten. Ich setzte meinen Weg zum Haus fort.
Unser Haus lag im nordöstlichen Teil von Ephesus, dort, wo das Land zu der Anhöhe ansteigt, die den Namen Pion trägt. Das Haus drängte sich, wenn man so will, regelrecht an die Stadtmauer, die durch den rückwärtigen Garten lief. Wir hatten eine Pforte in die Mauer brechen lassen, so daß wir in die jenseits der Mauer gelegenen Ställe gelangen konnten. Wenn ich jetzt, nach all diesen Jahren, in denen sich die Welt derart verändert hat, daran zurückdenke, so scheint es mir doch sehr ungewöhnlich: ein Privatmann, der eine Pforte in die Stadtmauer bricht, um keinen Umweg durch die Straßen machen zu müssen, wenn er zu seinen Rennpferden will. Was, wenn die Stadt belagert worden wäre? Selbst damals mochten der Magistrat und die in Ephesus residierenden Heerführer unsere Schlupftür ganz und gar nicht. Aber wann auch immer sie sie meinem Vater gegenüber zur Sprache brachten, lächelte der bloß und meinte, es sei ihm nicht möglich, sich genügend um seine Pferde zu kümmern, wenn er nicht direkt von seinem Haus aus zu ihnen könne. »Und nun mal ehrlich, Vortrefflicher«, pflegte er hinzuzufügen, wenn es sich um einen Heerführer handelte, »wozu soll eine Stadtmauer in Ephesus denn überhaupt gut sein? Hier wird es doch wohl keinen Krieg geben oder? Und selbst wenn, solange du Befehlshaber bist, würde der Feind nicht einmal in die Nähe der Stadt kommen. Nein, nein, laß meine kleine Pforte nur in Ruhe!«
Das Haus lag am Ende der Straße. Die Vorderfront war mit Marmor verkleidet, doch im übrigen sah es nicht besonders eindrucksvoll aus – jedenfalls nicht, wenn man es von der Straße aus betrachtete. Auf der Rückseite jedoch erstreckte es sich in geradezu prachtvoller Manier den Hang hinauf. Ich blieb einen Augenblick lang in der Ausfallpforte stehen und betrachtete es. Es war ein strahlender, sonniger Frühlingsmorgen. Hinter mir, in Richtung der Anhöhe, war alles leuchtend grün, und der Himmel hatte etwas von jenem frischen Tiefblau des Frühlings an sich, das die Sommerhitze noch nicht auszubleichen vermocht hat. Die beiden Pferde, zwei zueinander passende schwarze Stuten, zogen in dem mit Kies ausgelegten Hof hinter mir ihre Kreise, sie gingen jetzt im Schritt, ihr Fell schimmerte in der Sonne, ihre Hufe knirschten in den kleinen Steinchen, während Philoxenos ihnen mit leiser Stimme Befehle zurief. Der Torweg war dunkel und kühl, die steinerne Mauer fühlte sich klamm an. Vor mir schienen der Küchengarten, das weiß ausgewaschene Pflaster und die roten Ziegeldächer der Rückseite des Hauses regelrecht zu leuchten: dunkelgrün, strahlend weiß, blutrot. Dahinter schwang sich die Kuppel, die den mittleren Teil des Hauses überragte, in die Höhe. Sie war in einem hellen Grün angemalt und sah aus wie ein am blauen Himmel schwebendes Vogelei. Es war eine Marotte meines Großvaters gewesen, ein Haus mit einem palastartigen, von einer Kuppel überwölbten Bankettsaal zu bauen. Mein Großvater hatte in bezug auf seine eigene Wichtigkeit etwas bombastische Vorstellungen. Aber es war ein wundervolles Haus. Es hatte fünf Innenhöfe, zwei davon mit Säulengängen, drei mit Brunnen; es verfügte über ein separat liegendes Badehaus und eine eigene Bäckerei; es besaß nahezu hundert Räume, deren Fußböden mit Fliesen ausgelegt und deren Wände bemalt waren, sowie ein Hypokaustum, das es im Winter heizen, und Gärten, die es im Sommer kühlen sollten.
Es war kein altes Haus. Das Vermögen, mit dem es erbaut worden war, stammte von meinem Urgroßvater. Er war der Besitzer eines ziemlich großen Landgutes in dem weiter östlich gelegenen Tal, und während der Bürgerkriege erzielte er mit dem Verkauf seiner Erzeugnisse riesige Profite. Später hatte er das Glück, den richtigen Kaiser zu unterstützen. Er erwies sich als außerordentlich tüchtiger Verwaltungsbeamter und machte als Inhaber von Staatsämtern weitere Profite. Mein Großvater baute das Haus zu Ende und mehrte das Vermögen: Zum ersten Landgut kamen weitere mit Weinbergen und Olivenhainen, Weizenfeldern und Obstgärten, vor allem jedoch mit ausgedehnten Stallungen zum Rennpferdezüchten. Er hinterließ meinem Vater eines der größten Besitztümer der gesamten Provinz. So galt mein Vater inzwischen als ein Mann aus einem alteingesessenen und edlen Geschlecht. Nun ja, drei Generationen Reichtum sind mehr, als selbst die beiden Kaiser für sich in Anspruch nehmen können. Der Vater unserer erhabenen Gebieter, der erlauchten Kaiser Valens und Valentinian, war ein gemeiner Soldat aus Pannonien.
Ich ging ins Haus und suchte meinen Bruder Thorion.
Thorion hieß in Wirklichkeit Theodoros, wie unser Vater, aber als er fünf war und mich in überheblichem Tonfall Charition nannte, »kleine Charis«, hatte ich ihn meinerseits Thorion genannt. Ich war damals noch zu klein, um Theodorion zu sagen. Er war siebzehn, ein gutes Jahr älter als ich, und man nahm es ihm ab, erwachsen zu sein, während ich immer noch als kleines Kind behandelt wurde. Jungen haben sowieso mehr Freiheiten als Mädchen. Als wir beide noch klein waren, spielten wir immer zusammen, spionierten den Haussklaven nach und stibitzten uns etwas aus der Küche. Als wir dann lernen mußten, half ich Thorion bei den Lektionen, die unser Hauslehrer ihm aufgetragen hatte – Bücher waren noch nie seine Stärke, dafür hatte er den Sinn unseres Großvaters fürs Geld geerbt. Und als er die Schule beendet hatte und sein eigenes Zimmer sowie Taschengeld, drei Sklaven und eine eigene Kutsche bekam, da war es fast so, als hätte ich die gleichen Vorrechte erhalten. So sah ich die Sache jedenfalls, und nach einigen Protesten stimmte mir Thorion für gewöhnlich zu.
Ich fand Thorion im Blauen Hof beim Studium des Latein. Der Blaue Hof hieß wegen seines Brunnens so, da er mit blauen Kacheln und mit Delphinen aus farbigen Mosaiken geschmückt war. Thorion haßte Latein ebenso wie unser alter Hauslehrer Ischyras. Aber im Rechtswesen wird Latein gesprochen, wenn man es in der kaiserlichen Verwaltung zu etwas bringen will, muß man es eben können. Und Thorion wollte es in der Verwaltung zu etwas bringen. »Vater gibt immer nur Geld aus«, pflegte er verächtlich zu sagen. »Pferderennen und irgendwelche Ehrenämter! Ich gehe zum Gericht, um etwas zu verdienen. Man kann dreißig Pfund in Gold bekommen, nur weil man jemanden als Notar empfiehlt!« Er überredete Vater dazu, bei dem Professor für Latein und Recht aus Ephesus studieren zu dürfen, und er erreichte, daß auch ich Latein lernte, um es ihm dann erklären zu können. »Was das Pauken anbetrifft, bist du ganz einfach unschlagbar«, schmeichelte er mir.
»Hast du den Galen für mich kopiert?« fragte ich ihn. Ich wußte, daß er es nicht getan hatte, aber wenn er es zugeben müßte, hatte ich vielleicht mehr Chancen, daß er mir beim Sezieren helfen würde.
Er biß auf seinem Griffel herum und warf den Kopf in den Nacken: Nein. Das war noch so eine bäurische Angewohnheit, die Maia verabscheute. Aber Thorion hatte einen Haufen bäurischer Angewohnheiten. Er war groß für sein Alter, hatte breite Schultern und mächtige Pranken; seine Zähne saßen krumm und schief in seinem Mund. Seine Haare waren genauso schwarz wie meine, aber er hatte Naturlocken, während die meinen dauernd mit der Brennschere bearbeitet werden mußten – das war ganz einfach ungerecht! Die Leute meinten, er sähe genau wie unser Großvater aus. Ich dagegen geriete unserer Mutter nach: lang aufgeschossen, mager und knochig, mit großen Augen. »Das war eine wirkliche Dame!« sagten alle Haussklaven. »So vornehm, so höflich!« Aber sie war eine Woche nach meiner Geburt an Kindbettfieber gestorben, und so konnte ich das nicht beurteilen. Ich wäre lieber nach Großvater geraten. »Kann ich dein Zimmer für eine Weile benutzen?« fragte ich meinen Bruder. »Und deine Messer?«