Während die Halcyon darauf wartete, anlegen zu können, fragte ich den Schiffsherrn, wo sich das Museum befände, und er lachte. »Drei Fuß unter der Erde«, erzählte er. »Es ist während früherer Kriege und Aufstände zerstört worden. Niemand hat es je wieder aufgebaut.« Ich erfuhr später, daß es im Broucheionviertel gelegen hatte, das früher einmal der vornehmste Teil der Stadt gewesen war: In ihm lagen die kaiserlichen Paläste, einige der Tempel, das Museum und die Bibliothek. Das alles war jetzt zerstört. Die Ruinen waren von Weidenröschen und Beerenklau überwuchert, und Kinder jagten Ratten über die zerborstenen Steinblöcke. Was von der Bibliothek übriggeblieben war, befand sich jetzt im Tempel der Serapis im Rhakotisviertel, das an den Eunostoshafen grenzte. Die Stadtmauer war nach den Kriegen wiederaufgebaut worden, und zwar rund um eine kleinere Stadt herum. Das Deltaviertel, das früher eine jüdische Stadt innerhalb der Stadt gewesen war, war völlig verschwunden. Die einzigen neuen Gebäude waren Kirchen.
Nachdem die Halcyon festgemacht hatte, gab mir der Schiffsherr einige Ratschläge. »Hinterlege deine Wertsachen bei einer Bank«, sagte er. »Isidoros, der Sohn des Heron, ist vertrauenswürdig und wird nicht allzu sehr auf seinen Gewinn schauen. Du findest ihn beim zweiten Lagerhaus zu deiner Linken, sobald du den Hafen hinter dir läßt. Die Stadt ist voller Taschendiebe und Räuber, deshalb solltest du niemals viel Geld mit dir herumtragen. Halte dich von den kleinen Gassen auf der Rückseite der Häuser fern, vor allem im Rhakotisviertel. Die Ägypter mögen keine Fremden, vor allem keine Eunuchen. Welcher Religion hängst du an? Ja, ich weiß, du hast erzählt, daß du ein Christ bist; aber bist du Arianer, oder ziehst du den nizäischen Glauben vor?«
Ich antwortete, ich sei weder Arianer noch Nizäer. Ich kannte mich in religiösen Fragen kaum aus und wußte nur, daß der Streit etwas mit dem Wesen Christi zu tun hat. Die Arianer sagen, Jesus Christus stamme von Gottvater ab, während die Nizäer behaupten, er sei »wesensgleich« mit Gottvater, ein Ausdruck, den die übrigen Christen ablehnen. Der arianische Glaube wird von den Kaisern begünstigt, nicht jedoch von den Bischöfen, die ihn auf keiner ihrer Synoden jemals akzeptiert haben. Großvater hielt nicht viel davon.
»Nun gut, dann solltest du sagen, daß du Nizäer bist«, sagte der Schiffsherr der Halcyon. »Es macht sich hier besser, wenn du ein Manichäer und kein Arianer bist. Die Leute hängen ihrem Erzbischof mit einer fanatischen Liebe an. Er ist eingefleischter Nizäer und aus diesem Grund bereits fünfmal verbannt worden. Die Arianer sind nicht beliebt. Halte dich aus den öffentlichen Bädern fern: Hübsche Jungen sind in dieser Stadt nirgends sicher.«
»Ich bin älter als ich aussehe«, protestierte ich.
»Das mag ja sein, aber bei diesen Päderasten zählt allein das Aussehen! Für einen Eunuchen scheinst du mir ein sympathischer junger Mann zu sein. Es täte mir leid, wenn ich hören müßte, daß dir etwas zugestoßen ist. Viel Glück, und paß auf dich auf!«
Die Stadt war ganz anders, als ich erwartet hatte. Nachdem ich von Bord gegangen war, wanderte ich durch die engen, dunklen Straßen des Rhakotisviertels, zwischen den schäbigen Häusern mit ihren schmalen Vorderfronten, überragt von den zwei Kirchen, der kleinen, alten des Theonas und der neuen, großen des populären Erzbischofs Athanasios. Ich fand den Bankier, den der Schiffsherr mir empfohlen hatte, und hinterlegte meinen Schmuck bei ihm. Dann zog ich los und machte mich auf die Suche nach den Gelehrten beim Tempel der Serapis. Ein breiter Kanal verbindet den Hafen mit dem Mareotis-See, und ich verfolgte seinen Lauf bis zur Via Canopica, wobei ich den Rat des Schiffsherrn beherzigte und die rückwärtigen Straßen vermied. Die Leute sahen fremdartig aus – dunkelhäutiger als die Leute in Asien. »Honigfarben«, wie der Zensus sie immer nennt. Viele sprachen eine mir fremde Sprache, nicht griechisch, sondern koptisch, wie ich vermutete. Das waren also die Ägypter, die keine Fremden mochten. Sie kamen mir selbst sehr fremd vor.
Die Via Canopica sah schon eher so aus, wie ich mir Alexandria vorgestellt hatte: eine große Straße, breit genug für vier nebeneinanderfahrende Kutschen. Zusätzlich wimmelte sie von unzähligen Menschen, hochbeladenen Eseln und Kamelen und von Katzen – Tieren, die außerhalb Ägyptens sehr selten sind, dort aber sehr verbreitet. Auf beiden Seiten der Straße zog sich ein doppelter Säulengang mit Läden hin, den die Alexandriner Tetrapylon nennen. Straßenhändler boten kandierte Zitronen, Datteln, frisches und noch warmes Kümmelbrot, Würstchen und Sesamkuchen feil. Ich kam an Läden vorbei, die Weine aus allen Gegenden des Kaiserreichs verkauften, Tuch aus Wolle und Leinen sowie Garne, die ungewöhnlich grell gefärbt waren. Es wurden Amulette verkauft, Bücher, Stundengläser, Gold aus Nubien und Perlen aus Britannien, geschnitzte Möbel und Terakottabilder von vielen hundert verschiedenen Göttern. Bettler baten um Almosen. Ich kam an einem jungen Eunuchen vorbei, der einen phrygischen Hut aufhatte und der hinter einer bronzenen Bettlerschale saß und mit schriller Stimme eine Hymne zu Ehren der Göttin Kybele sang. Er starrte mich an, dann wandte er den Blick gleichgültig ab. Ein hochgewachsener, bärtiger Mann in einem schwarzen Umhang stand an einer Mauer und erläuterte ein paar aufmerksamen Schülern die philosophische Lehre der Stoiker. Auf der anderen Straßenseite predigte ein langhaariger Bauer in einer grobgewebten Tunika ein eigenartiges Sammelsurium gnostischer Anschauungen: »Die Welt ist vom Teufel geschaffen!« schrie er (er mußte schreien, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen). Die Leute schrien alle, wie sie da feilschten, sangen, fluchten und sich gegenseitig anrempelten. Ich kam an einem Laden voller Vögel vorbei, die in Käfige gesperrt waren und wie ein Chor von Bacchantinnen sangen. Es gab ein großes Mischmasch von Gerüchen: Honig, Kot, ungewaschene Menschen, Duftwässer, Abwässer, frisches Brot, Gewürze. Es war ein einziges Durcheinander von Geräuschen und Farben und tosendem Leben, und es betäubte mich.
Trotzdem, selbst als Fremder konnte ich erkennen, daß die Stadt nicht mehr das war, was sie einmal so berühmt gemacht hatte. Als ich zum Hauptplatz Alexandrias kam, dort wo die Via Canopica die andere große Durchgangsstraße, die Via Soma, kreuzt, erblickte ich die ersten von vielen Ruinen. Das Mausoleum des großen Alexander, des Sohnes von Philipp von Mazedonien, des Mannes, der die Welt eroberte: ein Ring zerborstener Säulen und ein paar Mauerruinen. Der einbalsamierte Körper war verschwunden und desgleichen natürlich auch der goldene Sarg sowie der Schatz, der um ihn herum aufgebaut worden war. Nun ja, das Imperium, das er gegründet hatte, war längst zerfallen, bevor sein Grab zerstört wurde, deshalb kann er sich wohl nicht beklagen. Ich bog nach rechts in die Via Soma ein und stieg zum Tempel des Serapis hinauf, wo nach wie vor die Überreste aus der Bibliothek und dem Museum aufbewahrt wurden. Der Tempel steht auf einem künstlichen Hügel im südwestlichen Teil der Stadt, in der Nähe des Stadions. Es war nicht schwierig, ihn zu finden: Sobald ich die Via Soma verließ, erblickte ich ihn. Er schien über den Dächern der umliegenden Häuser zu schweben. Die vergoldete Säule, die ich vom Schiff aus gesehen hatte, gehörte zu ihm. Dort, wo man von der Via Soma abbiegen mußte, war eine weiße Marmorplatte mit dem eingravierten Bild des Gottes in die Straße eingelassen worden. Ich folgte diesem heiligen Weg bis zum Tempeclass="underline" Er wand sich die Vorderseite des künstlichen Hügels empor, flankiert von Dattelpalmen und großen Büschen purpurfarbener Zistrosen. Der Tempelkomplex selbst war durch eine Mauer vom Rest der Stadt getrennt, doch das Tor stand offen und war unbewacht. Ich ging hindurch und befand mich auf einem gepflasterten Hof. Es war jetzt beinahe Mittag, die Sonne brannte erbarmungslos auf das weiße Pflaster und blendete die Augen. Zwischen weiteren Dattelpalmen rauschte kühl und erfrischend ein Brunnen. Daneben stand der Tempel, seine Säulen waren bemalt und vergoldet, seine Fassade war mit Bildern von Serapis, Iris und ihrem Sohn Harpokrates, den bedeutendsten der alten ägyptischen Götter, geschmückt.