Ich ging nicht in das Innere des Tempels: Als Christin hatte ich dort nichts zu suchen. Aber er war umgeben von vielen Gebäuden – von Lesehallen, Wohnhäusern und der Bibliothek, von Arkaden und Gärten –, und die meisten von ihnen gehörten zu der Institution, die die Alexandriner immer noch das »Museum« nennen. Ich hatte einige Empfehlungsschreiben bei mir, die Thorion und ich aufgesetzt hatten und die an einige der führenden Ärzte der medizinischen Fakultät gerichtet waren. Und so sah ich mich nach jemandem um, dem ich sie geben konnte.
Ich betrat eines der größeren Nebengebäude, das einen eher öffentlichen Eindruck machte. Es war eine Bibliothek: An den Wänden zogen sich Bücherregale hin. In der Mitte des Raumes saß ein schlanker, dunkelhäutiger Alexandriner an einem Schreibpult. Um seinen Hals trug er eine Kette mit einem bronzenen Schreibkästchen, dazu ein offiziell aussehendes Siegel. Sorgfältig notierte er gerade etwas auf ein Stück Papyrus. Er war wahrscheinlich ein Sekretär, ein Beamter. Aufgeregt ging ich zu ihm und fragte, ob ich dem höchst geschätzten Adamantios meine Aufwartung machen könne (er war der Dekan der medizinischen Fakultät).
»Was willst du von ihm?« fragte der Sekretär gereizt, legte seine Feder nieder und sah mich ärgerlich an. Dann warf er mir einen zweiten Blick zu, bemerkte meinen Aufzug und meine glatte Gesichtshaut, und sein Mund verzog sich verächtlich. Ich kannte diesen Blick allmählich recht gut. Er folgte fast immer, sobald man glaubte, mich als Eunuchen erkannt zu haben. Mir war bis dahin gar nicht klar gewesen, wie sehr Eunuchen gehaßt werden. Alle Welt macht sie höchstpersönlich für sämtliche Krankheiten des Kaiserreichs verantwortlich und behauptet, sie seien eigentlich nur importierte Sklaven, hätten jedoch das Ohr des Kaisers und ließen ehrliche Männer gar nicht erst bis zu ihm vordringen. Man sagt, sie seien nur halbe Männer, dafür aber in hohem Maße habgierig und korrupt – sie forderten ein Bestechungsgeld, nur um einem zu sagen, wie spät es ist. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, daß ich gar kein kaiserlicher Hofbeamter war. Ich wurde genauso gehaßt, als wäre ich einer, und man grinste höhnisch wegen meines Mangels an Männlichkeit, als hätte ich mich freiwillig dazu entschlossen, mich kastrieren zu lassen, nur um Bestechungsgelder zu kassieren. Ein bißchen irritiert erklärte ich, warum ich Adamantios gerne sprechen wollte. Der Sekretär rümpfte verächtlich die Nase, grinste hämisch, wies mich jedoch in eine Amtsstube, die an einem der Bibliotheksinnenhöfe lag. Es war ein kleiner, angenehm kühler Raum mit gemauerten Wänden. An einer der Wände stand ein Schreibpult, daneben ein Bücherschrank. Es war niemand da, deshalb setzte ich mich und wartete.
Nach etwa einer Stunde kam ein großer, dunkelhäutiger Mann herein. Er hatte einen mit Fransen besetzten Umhang um, trug einen kleinen Hut auf dem Kopf und sprach lautstark auf zwei vornehm gekleidete Begleiter ein. Ich erhob mich respektvoll, und er fragte mich, was ich wünschte.
»Hochgeschätzter Herr«, sagte ich, »ich bin Chariton, ein Eunuch aus Ephesus, und ich warte hier, um mit dem vortrefflichen Adamantios zu sprechen. Ich möchte mich gerne in der Heilkunst ausbilden lassen.«
»Ich bin Adamantios«, erwiderte der Mann und sah mich mißtrauisch an. »Habe ich schon von dir gehört? Ich erinnere mich nicht an den Namen…«
»Ich habe einige Empfehlungsschreiben«, sagte ich eifrig und reichte sie ihm. Er nahm sie, warf einen Blick hinein und runzelte die Stirn.
»Warum hat dein Wohltäter nicht etwas im voraus vereinbart?« fragte er mich. »Wir sind sehr beschäftigt um diese Jahreszeit, und ich glaube eigentlich nicht, daß du, hm, aus dem richtigen Holz geschnitzt bist, das man für einen Arzt benötigt. Du solltest wissen, daß man in diesem Beruf kein Leben in Luxus und Muße führen kann. Ich bin eigentlich der Meinung, daß ein, hm, Eunuche besser in der Verwaltung aufgehoben wäre.«
»Ich habe nichts gegen schwere Arbeit einzuwenden«, erwiderte ich. »Und ich möchte die Heilkunst sehr gerne erlernen. Ich habe auch Geld, um meine Unterrichtsstunden bezahlen zu können.«
»Nu-un…«, sagte Adamantios. Er blätterte die Briefe durch und gab sie mir schließlich zurück. »Du hast natürlich das Recht, es bei allen dem Museum angeschlossenen Ärzten zu versuchen. Du brauchst jemanden, der dich als Assistent aufnimmt. Dann kannst du alle Vorlesungen besuchen, vorausgesetzt natürlich, du bezahlst den Dozenten eine Gebühr. Es ist aber an dir, einen Lehrmeister zu finden.«
»Ich dachte, vielleicht könnte Eure Klugheit… das heißt, ich dachte, du wüßtest eventuell jemanden, der einen Assistenten braucht.«
»Oh.« Er betrachtete mich einen Augenblick lang, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich weiß niemanden. Du vielleicht, Timias?« fragte er und wandte sich an einen seiner Begleiter.
Dieser lachte. »Jedenfalls nicht so einen Assistenten!«
Adamantios lächelte überheblich. »Nein, ich kenne keinen. Du hast natürlich das Recht, dich umzuhören. Gibt es sonst noch etwas?«
Für die erste Woche meines Aufenthaltes in der Stadt mietete ich mich in einem von Flöhen heimgesuchten Quartier in der Nähe des Schiffskanals ein und klopfte an etliche Türen in der Nähe des Serapistempels. Mühsam schleppte ich mich von der einen zur nächsten Tür, wurde aber immer nur ausgelacht. Die von Thorion und mir so sorgfältig vorbereiteten Empfehlungsbriefe erwiesen sich als wertlos. Niemand traute mir: Entweder würde ich aller Voraussicht nach nicht hart genug arbeiten, oder ich war höchstwahrscheinlich unzuverlässig und dazu noch ein entwichener Sklave. Mein Plan, der in Ephesus so gut geschienen hatte, sah in Alexandria unausgegoren und undurchführbar aus. Ich war auf all die abschlägigen Antworten, das höhnische Grinsen, die Verachtung und den offenen Haß, die mir entgegenschlugen, nicht vorbereitet und fühlte mich ziemlich elend.
Zudem geriet ich mehrfach in den Verdacht, eigentlich nur nach einem männlichen Gönner Ausschau zu halten, da Eunuchen Menschen sind, die Müßiggang und Luxus lieben. Ich habe vergessen, wie oft man sich mir mit Geldangeboten näherte, wie vielen tatschenden Händen ich mich entziehen mußte. Ich war immer noch viel zu unerfahren, als daß mir derlei Annäherungsversuche nichts ausgemacht hätten, obwohl es nicht ganz so schlimm war wie mit Festinus. Gut, daß diese Leute nicht wußten, wer ich in Wirklichkeit war. Wenn ihr Gefummel Erfolg gehabt hätte, wären sie ganz schön überrascht gewesen! Doch niemand schien den Verdacht zu hegen, ich könne nicht der sein, der ich vorgab. Anfangs war ich nervös und rechnete dauernd damit, entdeckt zu werden, doch schließlich gewöhnte ich mich an die Situation. Die Menschen verlassen sich ganz auf das äußere Erscheinungsbild ihres Gegenübers, auf all die äußeren Hinweise auf Geschlecht und Rang, die man ihnen mit seiner Kleidung gibt. Die Mühe mit dem Schnürleibchen hätte ich mir fast sparen können. Die kurzen Haare und eine kurze Tunika genügten vollkommen. Die Leute sahen mich an und mutmaßten sofort: »Ein weibischer Junge – ein Eunuch?« und nicht etwa: »Ein verkleidetes Mädchen!« Ich war natürlich stets auf der Hut, mich nicht zu verraten. Es war überraschend einfach gewesen, die Angewohnheiten eines jungen Mädchens aus gutem Hause abzulegen, aber mit anderen Dingen hatte ich immer noch endlose Schwierigkeiten. Es war nicht leicht, mir dauernd in Erinnerung zu rufen, daß ich ein Mann war; zu versuchen, mich selbst anzuziehen und auch wirklich alles richtig zu machen; in einer fremden, großen Stadt zu Fuß umherzulaufen, wenn ich zuvor immer eine Sänfte oder einen Wagen zur Verfügung gehabt hatte. Meine Füße taten mir weh. Außerdem konnte ich mich nicht ordentlich waschen: In dem Gasthaus gab es keinen Ort, wo ich ungestört war. Ich lebte von billigen Brotfladen, die ich von Straßenhändlern kaufte. Ich war sehr knapp bei Kasse, da ich noch keine Möglichkeit gehabt hatte, etwas von meinem Schmuck zu verkaufen. Der Bankherr wollte ihn mir nicht eintauschen. Deshalb nahm ich ihn mit in einen teuren Laden an der Via Canopica, aber der Eigentümer behauptete, der Schmuck sei aus Glas. Als ich darauf bestand, den Schmuck von meiner Mutter geerbt zu haben, behauptete der Mann, ich hätte ihn gestohlen, und drohte mir damit, mich bei den Magistratsbeamten anzuzeigen. Ich ging mit meinem Schmuck hinaus und fühlte mich den ganzen Tag über ziemlich elend. Außerdem fragte ich mich, ob er seine Drohung wohl wahrmachen würde. Er tat es nicht, aber ich hatte Angst, es irgendwo anders zu versuchen. Mit ein bißchen mehr Erfahrung hätte ich gemerkt, daß der Mann ganz einfach versuchte, den Preis zu drücken. Die Alexandriner sind hitzige Menschen, reizbar und aufbrausend, gewalttätig und gefährlich.