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Nach zehn Tagen begann ich mich zu fragen, ob ich nach Ephesus zurückgehen und Festinus heiraten sollte. Ich sah mich bei einigen der alexandrinischen Ärzte um, die keine Verbindung zum Museum hatten. Die meisten von ihnen waren abergläubische Quacksalber, jene Art Männer, die ihren Patienten anraten, sich im Morast zu wälzen, dreimal um den Tempel herumzulaufen und die Götter dabei anzurufen und schließlich ein Bad im Schiffskanal zu nehmen – ein Verfahren, das außer den Gesündesten jeden umbringen würde. Doch dann lernte ich Philon kennen.

Ich traf ganz zufällig in der Bibliothek des Tempels auf ihn. Ich erholte mich gerade ein wenig von meiner letzten Abfuhr und las im Kräuterbuch des Krateuas, als ein bärtiger Mann mittleren Alters auf mich zutrat und mich fragte, ob er mal hineinsehen könne: »Falls du es nicht mehr brauchst, geschätzter Herr.« Es war ein angenehmes Gefühl nach all der Grinserei mit »geschätzter Herr« angeredet zu werden, deshalb ließ ich das Buch sinken.

»Ich habe nur mal kurz hineingeschaut«, sagte ich zu ihm.

»Wenn du etwas nachschlagen willst, Herr, dann nur zu.«

Er lächelte. Ich kannte die Stadt inzwischen gut genug, um zu erkennen, daß der Bart, der mit Fransen besetzte Schal und das kleine Käppi auf einen Juden hindeuteten. Sein braunes Haar und die helle Haut unterschieden ihn von den sonst in Alexandria so häufig anzutreffenden honigfarbenen Männern. Er war groß und breitschultrig und erinnerte mich deshalb ein wenig an Thorion. »Danke dir, Herr«, sagte er und schlug eine Rezeptur für eine gynäkologische Erkrankung nach, dann schüttelte er den Kopf. »Das wird wohl nichts nützen«, sagte er. »Immerhin, man kann es ja einmal versuchen.«

»Eine Patientin?« fragte ich, und er lächelte erneut. »Was sonst? Aber es gibt wenig genug, was ich für die arme Frau tun kann. Ein bißchen Opium, das ist alles, es lindert die Schmerzen. Eine wirkliche Heilung – die liegt in den Händen Gottes.«

»›Das Leben ist kurz, die Kunst des Heilens aber ist lang‹«, zitierte ich. »›Das Glück ist flüchtig, die Erfahrung täuschend, die Beurteilung schwierig‹«

»›Doch nicht allein der Arzt muß seine Pflicht tun, auch der Kranke und die Pfleger müssen ihren Teil dazu beitragen, um eine Heilung zu ermöglichen‹«, zitierte er zu Ende. »Ah, Hippokrates! Bist du Student?«

»Nein«, entgegnete ich etwas kurz. Dann, weil er mich ein wenig an Thorion erinnerte, fügte ich hinzu: »Ich wäre gerne einer. Aber niemand scheint mich haben zu wollen. Ich bin ein Eunuch und habe nicht die richtigen Empfehlungsschreiben.«

Er seufzte ein wenig und beobachtete mich. »Woher kommst du, wenn ich fragen darf? Du hast einen asiatischen Akzent.«

»Aus Ephesus«, erwiderte ich. »Das heißt, eigentlich aus Amida.« Und ich erzählte ihm meine kleine Geschichte von den Persern und »meinem Vetter Ischyras«, der mich von ihnen freigekauft habe, und von Thorion, der mich fortgeschickt habe, um die Heilkunst zu erlernen.

»Aha«, meinte er. »Darf ich deine Empfehlungsschreiben vielleicht einmal sehen?«

Ich hatte sie natürlich bei mir und gab sie ihm. Er las sie sich durch (»dieser Theodoros – das ist doch nicht etwa derselbe, der hingerichtet wurde? Nein, nein, natürlich nicht…«), dann stellte er mir einige medizinische Fragen, die sich meist auf die klassischen Texte von Hippokrates und Galen bezogen.

»Du bist sehr belesen für einen derart jungen Mann«, meinte er schließlich. »Und du machst einen sehr gebildeten Eindruck – kennst du dich in den Klassikern genausogut wie bei den medizinischen Schriftstellern aus? Ja? Es wundert mich, daß dich niemand als Schüler genommen hat. Ich…« er hielt inne und sah mich unentschlossen an. Dann schien er sich aufzuraffen und wagte den entscheidenden Schritt. »Ich brauche dringend einen Assistenten. Eigentlich sollte mein Neffe bei mir lernen, aber er starb voriges Jahr an einem tückischen Fieber. Natürlich müßtest du dich selbst darum kümmern, Vorlesungen zu besuchen, aber ich bin ja auch mit der hiesigen Schule liiert …« E r hustete und räusperte sich. »Natürlich, ich bin nicht so gebildet. Ich bin mit dem Gesetz des Moses aufgewachsen, nicht mit Homer und den Klassikern – aber ich kenne meinen Hippokrates. Ich kenne ihn besser als die Thora, Gott möge mir vergeben! Wenn es dir nichts ausmacht, bei einem Juden zu lernen, der nichts anderes zitieren kann als ›Sing, Göttin des Zorns‹, dann bist du willkommen und kannst bei mir in die Lehre gehen.«

»Wenn du Hippokrates kennst«, sagte ich, »dann kannst du die Werke Homers in den Großen Hafen werfen. Aber ich bin Christ – macht dir das nichts aus?«

»O nein, nein!« sagte er und lächelte erneut. »Das wäre eigentlich sogar sehr nützlich.«

So gingen wir also zu Adamantios und fragten uns dabei wahrscheinlich alle beide, auf was wir uns da einließen. Adamantios begrüßte Philon herzlich, und als er hörte, weshalb dieser gekommen war, machte er zuerst einen überraschten, dann amüsierten Eindruck. Er schüttelte mir die Hand und gratulierte mir herablassend: Philon würde mich also zu seinem Assistenten machen und war damit einverstanden, mir die Heilkunst beizubringen. Es stand mir natürlich frei, Vorlesungen von anderen Ärzten zu besuchen, falls ich eine Gebühr dafür bezahlte. Und wenn ich glaubte, genug gelernt zu haben, würden mich die medizinischen Professoren des Museums einer Prüfung unterziehen. Ich willigte ein, Philon zehn Solidi zu zahlen, sobald es mir gelungen sei, meinen Schmuck zu verkaufen, und wir schüttelten uns die Hände, um den Handel zu besiegeln.

Dann ging ich in meine Unterkunft zurück und machte mir schrecklich viele Gedanken. Ich wußte überhaupt nichts von Philon. Ich war gerade lange genug in der Stadt, um zu wissen, daß die Ägypter die Juden haßten und daß die anderen Leute des Museums, die meistens Heiden waren, ihnen mißtrauten und soweit wie irgend möglich keine Notiz von ihnen nahmen. Was also, falls der Mann nun unehrlich oder ganz einfach unfähig war? Andererseits war Adamantios ebenfalls Jude und überall anerkannt – aber er gehörte ja auch zur Oberklasse und hatte sicher mehr Homer gelesen als die mosaischen Gesetze. Nun, dachte ich bei mir, ich kann ja auch die Vorlesungen besuchen und andere Meinungen hören, ich müßte eigentlich etwas lernen können, selbst wenn Philon mir nicht viel beibringen kann. Aber dann fing ich an, mir wegen der Vorlesungen und wegen der anderen Studenten Sorgen zu machen. Ich hatte sie bereits überall gesehen: beim Studium von Büchern in der Bibliothek, beim Diskutieren am Brunnen vor dem Tempel, beim Untersuchen von Kräutern in den Tempelgärten. Es waren alles junge Männer, etwa in meinem Alter oder etwas älter, und sie machten ausnahmslos den Eindruck, als kannten sie bereits sämtliche Geheimnisse der Natur. Sie wußten sicherlich sehr viel mehr als ich. Und ich hatte den Verdacht, daß sie mich schon jetzt verachteten. Aber das durfte mir nicht soviel ausmachen, sagte ich mir und versuchte, meine Angst zu besänftigen. Jetzt bin ich hier in Alexandria und morgen werde ich mit dem Studium der Heilkunst beginnen. Selbst wenn ich nichts weiß, selbst wenn ich mich dabei nicht sehr geschickt anstelle, so ist es doch genau das, was ich mir mein ganzes Leben lang gewünscht habe. Ein Traum ist wahr geworden. Und schon ging es mir besser. Ich holte mein Exemplar des Galen hervor und las darin, neugierig auf alles, was es zu lernen gab.