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Am nächsten Morgen traf ich Philon am Tempel, so wie wir es vereinbart hatten. Als er mich sah, machte auch er einen etwas unsicheren Eindruck, aber er hieß mich höflich willkommen, und wir begannen seinen Rundgang.
Philons Patienten waren in der Hauptsache Juden, aber es gab auch vereinzelt Griechen und Ägypter aus der Unterklasse. Wir kamen auf unserem Weg in eine Anzahl schmalbrüstiger Häuser und Wohnquartiere, von denen einige im Südosten der Stadt an die Rückseite winziger Läden angebaut waren. Da gab es zum Beispiel einen Schiffszimmermann, der sich von einem heimtückischen Fieber erholte; die kleine Tochter eines Kopisten mit Ohrenschmerzen; die Frau eines Badewärters mit einem gebrochenen Schlüsselbein. »Ich fürchte, es ist keiner dabei, den man vornehm nennen könnte«, sagte Philon mit einem Lächeln zu mir. »Ich bin kein Modearzt. Dafür bin ich aber auch nicht teuer!« Sorgfältig war er darauf bedacht, mich mit den Patienten bekannt zu machen, und bat mich, alles Wichtige in seinem Patientenbuch zu notieren. Dadurch würde ich lernen, mir zu merken, woran jeder Patient gelitten und was Philon für ihn getan hatte. Er war freundlich und gewissenhaft, benutzte mit äußerster Umsicht eine große Anzahl ganz verschiedenartiger Arzneimittel, vermied jedoch Aderlässe und Abführmittel. Er nahm sich Zeit für jeden Patienten, beantwortete ihre Fragen und erklärte, was er tat.
Die vierte oder fünfte Patientin, die wir an jenem Vormittag besuchten, war die Frau eines Kupferschmiedes, die sich von einer Kindsgeburt erholte. Über der Tür des Hauses hingen Lorbeerzweige und ein wenig Fingerkraut als Zauber gegen den bösen Blick, und neben der jüdischen Schriftrolle der mosaischen Gesetze war ein Talisman befestigt. Philon sah den Zauber und runzelte mißbilligend die Stirn. Die Haussklavin, eine verschrumpelte alte Frau, ließ uns ein, und noch bevor Philon seinen Fuß über die Türschwelle gesetzt hatte, erzählte sie ihm bereits: »Der Herrin geht es schlechter, viel schlechter, und das Baby ist ebenfalls krank, das arme Ding. Es ist ganz gelb.«
»Ein oder zwei Tage nach der Geburt ist das gar nichts Besonderes«, sagte Philon energisch und trat ein, um die Patientin zu untersuchen.
In dem Haus roch es nach Räucherwerk, das von einem eigenartig beißenden Geruch überlagert wurde – wahrscheinlich verbrannte Haare und irgendwelche Pflanzen. Die Frau lag im Bett, sie hatte Fieber und eine ungesunde rote Farbe. Sie trug einen Talisman um ihren Hals und hatte ein Messer unter dem Kissen, um Teufel abzuwehren.
Philon lächelte, stellte mich vor und untersuchte die Patientin. Er reinigte ihr Gesicht mit einer Lösung aus Essig und Myrrhe und gab ihr eine Tinktur aus Opium und kretischem Diptam in Wein zu trinken. Er sah nach dem Säugling, der etwas gelblich war und fest schlief, ebenfalls mit einem Talisman um den Hals. Philon nahm ihn ab, dann nahm er auch denjenigen der Frau an sich. »Diese Dinger sind nicht gut«, meinte er fröhlich. »Es ist heidnisches Zeug, ganz bestimmt nichts für eine Jüdin. Du solltest nicht solchen Dingen vertrauen, sondern dem Gesetz des Moses. Jüdische Teufel scheren sich einen Dreck um solches Zeugs. Glaubst du wirklich, Lilith interessiert sich dafür, was Isis sagt? Was du brauchst, gute Frau, ist eine Schriftrolle des Gesetzes. Binde sie mit Leinenstreifen um deinen Bauch, und bitte deinen Mann, dir die Psalmen vorzusingen, während du Räucherwerk verbrennst. Du brauchst dir auch keine Sorgen wegen deiner kleinen Tochter zu machen: Solch eine leichte Gelbsucht ist nichts Besonderes. Stille sie möglichst oft, und gib ihr eventuell auch noch etwas abgekochtes Wasser zu trinken, dann wird die gelbe Farbe schnell verschwinden. Du mußt nur die richtigen Gebete sagen und das Räucherwerk verbrennen.«
Die Frau sah jetzt nicht mehr ganz so unglücklich aus und nickte. Philon ging hinaus und nahm die Talismane mit. Er riß den übrigen Zauber von der Tür und warf alles zusammen in den öffentlichen Abwasserkanal. »Da gehören sie hin«, sagte er ärgerlich. »Ich wollte, der Bursche, der das hier auf dem Gewissen hat, landete ebenfalls dort.« Als er meine Überraschung bemerkte, fügte er hinzu: »Er ist einer unserer Zauberer hier in Alexandria. Wir haben einen ganzen Haufen davon. Dieser hier hat sich auf Kindbettfieber spezialisiert. Hast du etwas gerochen?«
»Verbrannte Haare und… noch etwas.«
»Die Haare gehörten der Frau und das ›Noch-etwas‹ war ein Stück Papyrus, das mit dem Blut der Frau beschrieben war. Es ist die erste Stufe des Zaubers. Wenn sie nicht wirkt, schneidet der Mann dem Säugling einen Finger ab, um den Teufel, der das Leben des Kindes bedroht, zu beruhigen. Er hat jedoch keine Ahnung von Hygiene: So ein Schnitt infiziert sich für gewöhnlich, und das Kind endet als Krüppel – falls es überhaupt überlebt. Außerdem verbrennt der Kerl gerne irgend etwas. Die vielen Leute, die er schon getötet hat!« seufzte Philon. »Nun ja, die Ägypter sind der Magie äußerst zugetan und haben mit dieser Vorliebe einige Juden angesteckt. Aber ich hoffe, unsere Patientin wird es für diesmal dabei bewenden lassen.«
»Was hast du ihr denn da erzählt, was sie tun soll?«
Er lächelte ein wenig kleinlaut: »Etwas, was für einen Anhänger des Hippokrates eine Schande ist. Aber sie wollte ja unbedingt etwas Magie. Die hippokratische Medizin kann so wenig versprechen. Wir sagen immer, überlaß nur alles der Weisheit des Körpers: Dein Körper wird sich erholen, wenn er kann. Aber inzwischen leidet die Frau, sie hat starke Schmerzen und schreckliche Angst. Ein Zauberer taucht auf und sagt: ›Ich kann dich heilen‹, und das ist mehr, als der Arzt ihr versprochen hat, und so hört sie auf ihn. Nun ja, ich habe ihr meine Art Talisman gegeben, um sie nicht unglücklich zu machen, und wenn er sie beruhigt, dann wird ihr schon allein das helfen.«
Er machte sich zum nächsten Patienten auf den Weg, und ich folgte ihm langsam und äußerst nachdenklich. Das alles unterschied sich doch sehr von den hippokratischen Methoden, von denen ich gelesen hatte. Philon sah sich um, dann blieb er stehen, damit ich ihn einholen konnte.
»Die Praxis unterscheidet sich eben von der Theorie«, meinte ich und entschuldigte mich damit für meine Bummelei.
Er lächelte: »Da hast du bereits etwas gelernt, was die Hälfte der Ärzte im Tempel nicht wissen.«
Ich lächelte meinerseits und fragte ihn: »Hast du denn überhaupt eine Theorie, nach der du arbeitest?«
Er wurde ernst und zuckte die Achseln. »Nicht unbedingt. Ich bin kein Anhänger von Galen oder sonst einer bestimmten Lehre und auch kein Allopath – die Professoren oben auf dem Tempel haben mehr Theorien als ein Hund Flöhe, und ich kann sie unmöglich alle kennen und sie dir sicherlich auch nicht beibringen. Aber ich kann praktizieren. Einige werden dir erzählen, wenn man einen Patienten ohne eine bestimmte Theorie behandeln will, nur mit einem Messer in der einen und einem Arzneimittel in der anderen Hand, könne man genauso gut im Nebel herumstochern. Aber meiner Ansicht nach ist keine der Theorien wirklich hieb und stichfest, und man muß sich so gut wie irgend möglich im Nebel vorantasten. Man darf nur nicht vergessen, daß man sich mitten im Nebel befindet. Ich versuche, die Symptome zu behandeln, dem Patienten Mut zuzusprechen und dem Körper dabei behilflich zu sein, sich selbst zu heilen. Ich kann dir ein paar Dinge beibringen, mit denen ich Erfolg hatte, aber keine großen Geheimnisse.«
»Das klingt sehr nach Hippokrates.«