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»Hippokrates wußte weniger als Galen, aber er verstand mehr. Das glaube ich zumindest.« Das Lächeln erschien erneut. »Wir müssen uns beeilen: Ich habe noch einen Patienten, der mich erwartet.«

Nachdem ich eine Woche lang mit Philon gearbeitet hatte, war ich froh darüber, daß die angeseheneren Ärzte mich abgewiesen hatten, denn ich hätte keinen besseren Lehrmeister finden können. Er entsprach meinem Ideal von einem wirklichen Hippokratiker: gelehrt, unvoreingenommen, ein methodischer Beobachter – außerdem selbstlos, großzügig und freundlich. Die ärmeren Patienten behandelte er aus reiner Nächstenliebe, und er nahm keine Kupfermünze von jemandem, der es sich nicht leisten konnte. Er tat es, wie er sich ausdrückte, »aus Liebe zu Gott«, und da die meisten Patienten, die er auf dieser Basis annahm, Ägypter, Christen oder Heiden waren, Leute, die den Juden gegenüber normalerweise nur Verachtung hatten, war seine Großzügigkeit erstaunlich. Außerdem war er ein guter Lehrer: Er liebte es, die Dinge zu erklären, und nahm sich wirklich Zeit für mich. Und es freute ihn, wenn ich durchdachte Fragen stellte. Auch er schien inzwischen glücklicher zu sein mit mir und gab seine frühere, recht zurückhaltende Art auf. Er nannte mich Chariton statt »geschätzter Herr«, und gelegentlich entfuhren ihm sarkastische Bemerkungen oder spöttische Scherze über seine Patienten wie: »Der da möchte gerne gelobt werden, daß er so gut spucken kann« oder »Nimm ihre Symptome nicht so ernst, mein Junge – sie hat das bloß wegen deiner schönen Augen gesagt!« Er schlug vor, ich solle mir doch ein Quartier in größerer Nähe seines Hauses suchen, um nicht jeden Morgen den weiten Weg vom Hafen herauf bis zu unserem Treffpunkt machen zu müssen.

Ich fragte ihn, ob er ein Haus ohne Flöhe kenne. »Irgend etwas, wo ich ein Bad nehmen kann«, sagte ich. »Ich mag die öffentlichen Bäder nicht benutzen und fühle mich allmählich wie ein Mönch aus der entferntesten Wüste.«

Philon lachte und sah mich dann verlegen an. »Wir haben ein unbenutztes Zimmer in meinem Haus«, meinte er. »Es ist klein und liegt im dritten Stock. Außerdem ist es ziemlich einfach, aber wenn du möchtest…«

»Würde es dir denn nichts ausmachen? Das heißt, würde es deiner Frau nichts ausmachen, einen Fremden bei sich aufzunehmen, einen Christen und noch dazu einen Eunuchen?«

»O nein, nein! Sie ist eine gute Frau – wie die Psalmisten sagen: ›Mehr wert als Edelsteine.‹ Ich habe ihr von dir erzählt; sie möchte dich sowieso kennenlernen.«

So nahm mich Philon an jenem Nachmittag mit zu sich nach Hause und stellte mich seiner Familie vor: seine Frau, die den fremdartig klingenden jüdischen Namen Deborah hatte; seiner vierzehn Jahre alten Tochter, die den eher geläufigen griechischen Namen Theophila hatte; und seinen beiden Sklaven, Harpokration und Apollonia. Die Sklaven waren Heiden. Ich stellte fest, daß die Juden dies ziemlich häufig so handhaben, da die mosaischen Gesetze von ihnen verlangen, jeden jüdischen Sklaven nach sieben Jahren freizulassen. Philon hatte auch noch einen Sohn, aber dieser junge Mann weilte in Tiberias, um dort das jüdische Gesetz zu studieren. Philon verkündete allen, daß ich bei ihnen wohnen würde. Sie machten einen einigermaßen überraschten Eindruck, erhoben aber keinen Einwand, und Harpokration, ein kräftiger Mann mittleren Alters, der die Göttin Isis anbetete, wurde beauftragt, mir beim Holen meiner Sachen zu helfen.

Philons Haus lag in der Nähe der neuen Stadtmauer, südlich der Via Canopica. Es war ein schmales Haus, nicht breiter als zwei Zimmer, hatte allerdings drei Geschosse. Mein Zimmer lag im dritten Stockwerk, unter dem Dach, und das Fenster ging auf das nebenan liegende Haus. Von ferne kam der Geruch vom Hafen herüber.

Der Mareotis-See hat einen Zufluß, der vom Sonnentor und vom Canopica-Kanal kommt und den See mit dem Nil verbindet. An heißen, windstillen Tagen war der Gestank nach Kot und Hafenabwässern überwältigend. Hippokrates sagt, stehende Gewässer seien sehr schlecht für die Gesundheit, und diejenigen, die es trinken, bekämen die Wassersucht und litten an Magenkrankheiten. Die Menschen dieses Viertels tranken das Wasser aus dem Kanal zwar kaum einmal, und das Wasser des Sees ist sowieso brackig und ungenießbar, aber sie schienen trotzdem öfter mit Fieber und Infektionen geschlagen zu sein als Leute, die in den anderen Stadtteilen wohnten. Alles in allem unterschied sich das Haus wirklich sehr von Vaters Haus in Ephesus.

Doch davon einmal abgesehen, lag es in einer sonst recht hübschen Ecke Alexandrias. Der alte, dem Gott Pan geweihte Park befand sich nur ein paar Häuserblocks entfernt, und dort, wo unsere Straße die Via Canopica kreuzte, lag ein öffentlicher Brunnen. Ich mochte das Haus und die Familie sehr gern. Ich zahlte Philon vier Solidi Miete jährlich. Dies schloß das Wasser ein, das Apollonia mir aus dem öffentlichen Brunnen holte, sowie ein Kohlenbecken, um das Zimmer im Winter zu heizen. Ja sogar meine Wäsche wurde dafür zusammen mit den übrigen Sachen aus dem Haushalt gewaschen. Weitere zwei Solidi zahlte ich für Lebensmittel, da ich die meisten Mahlzeiten mit der Familie zusammen einnahm.

Inzwischen hatte ich genug Geld, da Philon auch noch jemanden gefunden hatte, der mir meinen Schmuck abkaufte – einen alten jüdischen Händler, der im Deltaviertel, das heißt, in dem, was von ihm noch übriggeblieben war, wohnte. Auch er fragte mich zuerst, warum ich die Steine verkaufen wolle, da sie doch meiner Mutter gehört hatten. »Ich kann weder Frau noch Tochter haben, die sie tragen könnten«, antwortete ich. »Ich glaube, meine Mutter würde es mir nicht verübeln, wenn ich mit ihrer Hilfe meine Ausbildung bezahle.« Der alte Mann nickte, murmelte etwas und bot mir einen derart guten Preis an, daß ich beinahe beschämt war, ihn anzunehmen. Dabei verkaufte ich vorerst nur ein paar Ohrringe. Sie hatten Perlen und waren mit Saphiren besetzt, und der alte Mann bezahlte mir 68 Solidi für sie – genug, um jahrelang davon leben zu können, zumindest auf die Weise, wie ich in Alexandria lebte.

Ich hatte den Eindruck, mein ganzes Leben lang, jedenfalls bis zu meiner Ankunft in Alexandria, noch nichts getan zu haben. Es war fast so, als habe ich vorher gar nicht existiert. Nur ganz zu Anfang vermißte ich die Bequemlichkeiten von zu Hause, dann vergaß ich sie bei all meinem Glück bald völlig. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, so glücklich zu sein. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, dachte ich: Ich bin in Alexandria! Und es war so, als beginne mein ganzer Körper zu singen.

Für gewöhnlich stand ich vor Morgengrauen auf – wegen der Hitze tut das im Sommer jeder Ägypter. Ich wusch mich in dem ersten fahlen Licht, das durch die Fensterläden drang. Während ich mich über eine Schüssel beugte und mich mit lauwarmem Wasser bespritzte, drangen von der Straße unten die Geräusche der Karren und Lastkamele herauf, die vollgepackt mit Waren zum Markt zogen, und die Stimmen der Frauen, die ihre Tagesration Wasser aus dem öffentlichen Brunnen holten. Für unseren Haushalt besorgte dies die Sklavin Apollonia. Ich begegnete ihr für gewöhnlich in der Küche, wenn ich die Treppe hinunterging. Wir wünschten uns gegenseitig einen guten Morgen, und ich holte mir einen Fladen Kümmelbrot aus der Küche und aß ihn auf dem Weg zum Tempel. Wenn ich aus der Tür von Philons Haus trat, herrschte immer noch das fahle Licht der Morgendämmerung, doch die Straßen waren bereits bevölkert. Ehrbare Männer und Frauen eilten zur Arbeit; Schuljungen stürmten die Straßen hinunter und brüllten sich gegenseitig etwas zu oder gingen brav neben einem der Sklaven ihrer Familie her, die die kleinen Herren zu ihrer täglichen Portion Homer begleiteten. Auf der Via Canopica öffneten die Läden. Bäcker häuften auf langen Tischen vor ihren Läden duftende Laibe frischen Brots auf, das sie während der Kühle der Nacht gebacken hatten; Fleischhändler stellten junge Ziegen mit zusammengebundenen Beinen und geflochtene Weidenkäfige voller Küken auf die Straße; Barbiere wetzten ihre Rasiermesser und hielten Ausschau nach Kunden; Bauern vom Land ließen sich am Straßenrand nieder, breiteten ihre frischen Früchte oder grünen Kräuter zum Verkauf aus und priesen den Passanten in einem nasalen Singsang ihre Waren an. Die verhüllten Sänften und Tragsessel der Reichen segelten über den Köpfen der gemeinen Menge wie Schiffe auf der rauhen See. Ich konnte mir kaum mehr vorstellen, daß ich daran gewöhnt gewesen war, mich in einer von ihnen fortzubewegen. Ich bahnte mir meinen Weg über den Somaplatz, wo in den umliegenden Ruinen Vögel sangen. Dann hielt ich einen Augenblick inne und blickte mich um: Wenn ich die richtige Zeit erwischt hatte, konnte ich sehen, wie sich die Morgenröte vom Sonnentor aus die breite Via Canopica hinunter ergoß und die wuchtigen Baumassen der öffentlichen Gebäude in ihr grelles Licht tauchte, so daß sich Menschen und Tiere überdeutlich wie die Figuren eines Gemäldes von ihnen abhoben. Wenn ich dann am Tempel ankam, war die Sonne über die grüne Ebene des Deltas emporgeklettert: Vom Torweg aus konnte ich die ganze große Stadt überblicken, ein riesiger, glitzernder Edelstein am Ufer des blau schimmernden Meeres.