Ich verbrachte den frühen Vormittag im Tempel, besuchte Vorlesungen und diskutierte mit den anderen Medizinstudenten. Es gab etwa hundert von ihnen, und sie kamen von überallher aus dem Ostreich, obwohl die meisten wahrscheinlich Alexandriner waren. Während der ersten paar Wochen hielt ich mich bei den Diskussionen zurück, da mich ihr Wissen nach wie vor einschüchterte. Ihrerseits neigten sowohl die Studenten als auch die Vortragenden dazu, hämisch über mich zu grinsen. Es war offensichtlich, daß sie mich für einen verweichlichten asiatischen Eunuchen hielten, der sich einbildete, ein Arzt werden zu müssen. Sie erwarteten alle miteinander, daß ich bald aufgeben und nach Hause gehen würde, besonders, da Philon dafür bekannt war, »wie ein Sklave« zu arbeiten. Anfang Juni jedoch machte einer der Studenten, ein sehr gesprächiger junger Mann aus Antiochia, lauthals eine Bemerkung, bei der er die Methode, Verrenkungen zu behandeln, mit derjenigen für Muskelzerrungen verwechselte. Da niemand sonst etwas dazu sagte, wies ich nach einigem Zögern sehr zurückhaltend darauf hin, daß mein geschätzter Gesprächspartner wohl einem Irrtum erlegen sei, und zitierte aus einer Schrift des Hippokrates. Der andere machte einen verlegenen Eindruck, die übrigen Studenten feixten, und der Vortragende war überrascht und zollte mir Beifall. Mir wurde klar, daß keiner der übrigen Studenten das in Frage stehende Werk gelesen hatte. Ich konnte also ruhig ebenso frei heraus reden wie irgendeiner von ihnen und brauchte nicht mehr aus Angst, mich lächerlich zu machen, den Mund zu halten. Nach diesem Vorfall machte ich immer öfter diese oder jene Bemerkung oder stellte irgendwelche Fragen, und die anderen begannen allmählich mich ernst zu nehmen. Einige mochten mich noch weniger als zuvor, da ich plötzlich ein Rivale war und keinen Anlaß mehr zum Scherzen bot, doch andere fingen an, mich mit größerer Hochachtung zu betrachten. »Und was hätte Hippokrates dazu gesagt?« pflegte Adamantios seine Zuhörerschaft zu fragen. Und dabei sah er mich erwartungsvoll an.
Am späten Vormittag ging ich dann in die Stadt hinunter, um Philon zu treffen. Wir verabredeten uns gewöhnlich auf dem Somaplatz, an einer Säule mit einem in Stein gemeißelten Delphin. Ein Lächeln und ein Wort zur Begrüßung, dann ergriff ich seine Arzttasche, und wir machten uns auf den Weg zu seinen Patienten und diskutierten im Gehen medizinische Probleme. Bisweilen luden uns die Patienten zum Mittagessen ein; bisweilen kauften wir in einem Laden oder bei einem Straßenhändler etwas Wein und Brot oder Früchte. Philon arbeitete den ganzen Nachmittag, sogar während der heißen Mittagsstunden, wenn die meisten Leute schliefen: Er meinte, die Menschen fühlten sich um diese Zeit oft am schlechtesten. Außerdem verbrachte er seine Abende gerne zu Hause mit seiner Familie. Wir waren stets vor Sonnenuntergang zu Hause. Im Hauptraum des Hauses mit seinem gelbgefliesten Fußboden und dem abgenutzten Eichentisch nahmen wir eine einfache Mahlzeit ein, sprachen über medizinische Probleme, über die Patienten oder den Klatsch aus der Nachbarschaft. Nach dem Abendbrot pflegten Philon und seine Familie einige Gebete zu sprechen und in den Büchern Moses zu lesen. Nach den ersten paar Wochen ging ich dann hinauf in mein Zimmer und las medizinische Texte oder bereitete irgendwelche Arzneien vor, die Philon am nächsten Tag brauchte. Anfangs erschöpfte mich dieses Leben sehr. Mehrere Wochen hindurch war ich unfähig, am Abend auch nur das geringste zu tun, außer in mein Zimmer hinaufzugehen, die Tür zu verriegeln und auf das Bett niederzusinken. Ich glaube, Adamantios und die Spötter im Tempel hatten recht: Es war Schwerstarbeit, und jemand, der so etwas nicht gewohnt war, war schlecht beraten, sich darauf einzulassen. Allerdings kam es mir nicht so vor wie Arbeit. Sich den ganzen Tag lang, von der Morgendämmerung bis spät in die Nacht hinein, mit nichts anderem zu beschäftigen als mit der Kunst des Heilens – das war der Gipfel der Freude und keine Arbeit. Das Gefühl der Müdigkeit verschwand, sobald ich mich an mein neues Leben gewöhnt hatte, nicht aber das Glücksgefühl. Ich hatte vorher gar nicht bemerkt, wie eingeschränkt mein früheres Leben gewesen war. Ich hatte niemals selbständig die Straßen hinunterspazieren oder mein eigenes Geld ausgeben, ja nicht einmal einfache Dinge selbständig entscheiden können, wie zum Beispiel, was ich lesen oder anziehen oder zum Mittagessen zu mir nehmen wollte. Jede Einzelheit war mir vorgeschrieben worden. Jetzt war der Geschmack der Freiheit um so köstlicher.
Der Sommer schien jahrelang zu dauern: Ich lernte so viel, veränderte mich so sehr. Es schien mir ganz natürlich, an mich selbst als an einen Mann zu denken, und in den Vorlesungsräumen des Tempels verlor ich allmählich den letzten Rest meiner mädchenhaften Bescheidenheit. Wie wild kaufte und las ich Bücher. Einige handelten von den verschiedenen medizinischen Theorien, aber diese waren im großen und ganzen nicht sehr hilfreich. Wenn der eine Schriftsteller behauptete, Krankheit sei das Ungleichgewicht im Verhältnis der vier Körpersäfte und diese seien Blut, Schleim, schwarze Galle und gelbe Galle, so stimmte ein anderer mit diesem vielleicht in bezug auf die Krankheit überein, war jedoch, was die vier Körpersäfte anbetraf, anderer Meinung. Ein dritter vertrat eine vollkommen entgegengesetzte Ansicht und behauptete, Krankheiten würden durch ein Mißverhältnis zwischen Nahrungsaufnahme und Ausscheidung hervorgerufen. Doch wenn man ganz konkret mit einem wirklichen Patienten konfrontiert ist, der wirklich krank ist und schwitzend und bleich vor einem liegt, ist nichts davon auch nur im geringsten hilfreich. Ich war mit Philon einer Meinung, daß der Praxis eine höhere Wahrheit innewohnt als allen Theorien, und deshalb konzentrierte ich meine Bemühungen darauf, praktische Erfahrungen zu sammeln.
Ich studierte die Heilkräuter und stellte in ihrem Zusammenhang viele Fragen. Auf dem Gebiet der Arzneien fühlte ich mich am hilflosesten, da ich noch nichts über sie wußte. Eine meiner Pflichten als Philons Assistent bestand darin, die verschiedensten Medizinen vorzubereiten. Diese Aufgabe war in Alexandria sicherlich einfacher als in den meisten anderen Städten. Ich benutzte natürlich auch die Kräuter in den Tempelgärten, aber diejenigen, die wir am häufigsten brauchten, konnten wir auf dem Markt kaufen, und zwar bereits fertig zubereitet in kleinen Kästchen oder in Flaschen. So mußten wir nicht auf die richtige Jahreszeit warten oder das Mark herauspulen oder den Saft herauskochen oder in die Berge hinaufwandern, um nach der richtigen Wurzel zu suchen. Wir mischten die Präparate einfach mit der erforderlichen Menge Wein, Essig oder Öl und versuchten, die richtige Dosis für den Patienten abzuschätzen. Ob es sich nun um Enzian oder Schierling handelte, um Myrrhe, Krokus oder Kassiaschote, um Opium, griechische Veilchen oder Zedernöl – in Alexandria konnte man jedes Heilkraut auf dem Kräutermarkt kaufen. Das meiste davon waren Arzneien, von denen Hippokrates nie gehört hatte. Wir wissen mehr über den Körper und die Natur als er. Aber es war genauso, wie Philon sagte, er verstand mehr, als er wußte. Ich fand seine Methoden und seine forschende Geisteshaltung weit eindrucksvoller als den engstirnigen Standpunkt mancher späterer Schriftsteller. Und die Frage: