»Was hätte Hippokrates wohl getan?« war es stets wert, gestellt zu werden. Ich jedenfalls war allmählich dafür berüchtigt, sie dauernd zu stellen. Meine Kommilitonen am Tempel fingen jedesmal an, über mich zu lachen, wenn die Frage kam, aber schließlich hörten sie mit ihrem hämischen Grinsen auf und fragten mich immer öfter um meine Meinung.
Anfang August sezierte Adamantios einen menschlichen Körper. Dies war ungewöhnlich, selbst in Alexandria, wo derartige Untersuchungen eine gewisse Tradition hatten. Die Behörden argwöhnten stets, ein derartiges Sezieren hätte etwas mit Zauberei zu tun – obwohl ich sagen muß, daß magische Praktiken, die in Ephesus die Todesstrafe zur Folge gehabt hätten, in Ägypten offen ausgeübt wurden. Deshalb verstehe ich nicht, warum sich überhaupt jemand darüber aufregte, wenn Leichen medizinisch korrekt seziert wurden. Die hippokratische Tradition stand schon immer in scharfem Gegensatz zu jedweder Magie. Doch die Behörden machten eben manchmal ein Getue. Außerdem ist es schwierig, einen geeigneten Leichnam zu finden, so daß nicht so häufig seziert wird, wie man sich das wünschen könnte. Jedesmal wenn es einem der Professoren des Museums gelang, eine Leichenöffnung zu arrangieren, versuchten sämtliche Studenten wie wild einen Platz in der Nähe des Seziertisches zu erobern, um alles mitzubekommen. Adamantios hatte fünf Assistenten, und sie bekamen natürlich die besten Plätze. Doch schon die zweitbesten Plätze verursachten beträchtliche Machenschaften und ein fürchterliches Geschubse zwischen den übrigen. Ich landete schließlich ganz hinten, in der Nähe der Wand, wo ich überhaupt nichts sehen konnte. Doch bevor Adamantios sein Messer ansetzte, blickte er einmal in die Runde und bemerkte mich. »Chariton«, rief er, »kannst du von dort aus etwas sehen?«
Ich gab zu, daß ich fast nichts sah.
»Dann komm nach vorne«, forderte Adamantios mich auf.
»Du bist neu hier und hast so etwas bisher noch nie gesehen. Und du wirst einen besseren Gebrauch von dem Gesehenen machen können als der größte Teil des Haufens hier.«
»Der größte Teil des Haufens« stöhnte gemeinsam auf: Einige sahen richtig wütend aus – aber sie machten mir Platz. Ich traute mich kaum zu atmen. Ich spürte, daß mir niemals ein größeres Kompliment gemacht worden war, bahnte mir einen Weg nach vorne und beobachtete alles, so als hinge mein Leben davon ab. Als Adamantios sein Messer an dem Leichnam ansetzte (es war der einer älteren Frau; ich glaube, sie war die Sklavin eines Freundes von ihm gewesen), fühlte ich mich ein bißchen flau, aber schon bald dachte ich nicht mehr darüber nach. Der menschliche Körper ist ein Rätsel, ein Geheimnis und ein Wunder zugleich, und ich war von ihm vollkommen in den Bann gezogen. Adamantios arbeitete langsam, erklärte alles, fragte und beantwortete Fragen, während er mit dem Sezieren fortfuhr. Der Magen und die Verdauungsorgane, die Leber, das Zwerchfell, die Lungen, das Herz…
An dieser Stelle fiel einer von Adamantios’ Studenten in Ohnmacht – es war der junge Mann aus Antiochia. Adamantios legte sein Messer zur Seite und sah verärgert aus, dann kam er um den Seziertisch herum und verscheuchte die anderen Studenten. »Laßt ihn in Ruhe atmen!« sagte er. Er richtete den jungen Mann in eine sitzende Position auf und prüfte, ob seine Atmung irgendwie beengt war. Dann legte er den Kopf des Studenten in seinen Schoß. Einen Augenblick später konnte man ein Stöhnen vernehmen, und der Kopf des Studenten kam wieder hoch.
»Es ist sehr heiß und voll hier drin«, sagte Adamantios taktvoll. »Warum setzt du dich nicht eine Weile nach draußen neben den Brunnen, bis du dich besser fühlst?«
Der Student aus Antiochia – ich erinnerte mich daran, daß er Theogenes hieß – blinzelte, blickte beschämt, rappelte sich auf und machte sich davon. Adamantios ging wieder um den Tisch herum und fuhr mit dem Sezieren fort.
Ich mußte gehen, bevor Adamantios seine Arbeit beendet hatte: Ich war noch vor dem Mittagessen mit Philon verabredet. Als ich den Tempelhof durchquerte, saß Theogenes immer noch neben dem Brunnen und starrte niedergeschlagen ins Wasser. Als er meine Schritte hörte, blickte er auf. Dann rief er: »He! Chariton! Sind sie fertig da drinnen?«
»Fast«, antwortete ich und blieb stehen. »Als ich ging, nahm er gerade allgemeine Fragen durch.«
»Ich habe mich wie ein Narr aufgeführt, findest du nicht?« sagte Theogenes und grinste. Er hatte ein angenehmes Lächeln, seine Zähne waren weiß, und er war stets gut gelaunt. Er war ein großer, schlanker junger Mann mit dichten schwarzen Locken und braunen Augen. Wenn er sprach, fuchtelte er viel mit seinen Händen herum und lächelte oft. »Es war das erstemal, daß ich da dabei war – aber bei dir war es ja auch das erstemal, nicht wahr? Und ich habe schließlich von Kindesbeinen an von solchen Dingen gehört, also habe ich überhaupt keine Entschuldigung. Hattest du kein flaues Gefühl im Magen?«
»Am Anfang schon«, gab ich zu. »Aber ich würde mir deswegen keine Gedanken machen; es war sehr heiß da drinnen, und die vielen Leute haben einem die ganze Luft zum Atmen genommen.«
»Genau, nicht wahr? Bei der Art, wie jedermann alle Anstrengungen unternahm, etwas zu sehen, hätte man meinen können, bei einem Wagenrennen zu sein. ›Schneller, Grüne!‹ Schnitt vom Dünndarm zum Magen!‹«
»Schneller, Blaue! Die Hauptschlagader hinauf zu den Lungen!« ging ich auf das Spiel ein und grinste zurück. Vater ließ seine Gespanne für gewöhnlich unter den blauen Farben laufen, und ich war daran gewöhnt, sie anzufeuern.
»Und?« fragte Theogenes. »Haben sie herausgefunden, woran sie gestorben ist?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es war nichts zu sehen, was offensichtlich darauf hingewiesen hätte.«
»Arme alte Frau! Könntest du mir vielleicht erzählen, was sie überhaupt rausgefunden haben? Ich lade dich zum Mittagessen ein.«
Ich war überrascht und freute mich sehr über das Angebot. Selbst die Studenten, die mir gegenüber nach und nach höflicher geworden waren, hatten außerhalb der Fachdiskussionen nicht mit mir gesprochen. Dennoch mußte ich seine Einladung ablehnen. »Es tut mir leid, ich kann nicht. Mein Lehrmeister wartet auf mich – ich bin schon spät dran. Vielleicht ein anderes Mal?«
»Er läßt dich am Nachmittag arbeiten?«
»Er arbeitet immer nachmittags. Er hat einen Haufen Patienten, und er verbringt die Abende gerne mit seiner Familie.«
Theogenes ließ einen Pfiff hören. »Es ist verdammt heiß zum Arbeiten! Nun, dann vielleicht morgen abend – nein, morgen beginnt der Sabbat.«
»Bist du auch Jude?«
»Ja. Mein Vater ist ein Vetter zweiten Grades von Adamantios. Du bist aber nicht jüdisch, nicht wahr?«
»O nein. Ich bin Christ. Aber mein Lehrmeister ist Jude, deshalb halte ich den Sabbat ein.«
Theogenes lachte. »Dein Lehrmeister scheint ja ein rechter Kauz zu sein!«
»Er ist einer der besten Ärzte der Stadt«, erwiderte ich heftig. Theogenes sah mich verdutzt an. »Ich wollte damit nur sagen, daß es für einen jüdischen Arzt ungewöhnlich ist, einen christlichen Assistenten zu haben, der den Sabbat einhält. Vor allem …« Er sah verlegen aus und hielt inne.
»Vor allem, wenn sein Assistent ein Eunuch ist?«
»Nun ja. Das soll keine Beleidigung sein. Sieh mal, Chariton, ich würde gerne deine Meinung über das Sezieren hören. Einige der anderen und ich treffen uns am Abend nach dem Sabbat in der Taverne des Kallias in der Nähe des Castellum, um über alles mögliche zu reden. Möchtest du auch kommen?«
»Oh!« sagte ich und starrte Theogenes etwas töricht an. Zum erstenmal seit Wochen fühlte ich mich wieder schüchtern und unbeholfen. Ich hatte das dauernde hämische Grinsen ignorieren können, weil ich nichts von meinen Kommilitonen gewollt hatte und weil ich sowieso fast meine ganze Zeit mit Philon verbrachte. Jetzt bot mir Theogenes eine Art Kameradschaft an, und ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Junge Damen besuchen keine Tavernen. Aber ich war keine junge Dame, warum also nicht? »Sicherlich«, sagte ich und lächelte ein wenig nervös. »Danke.«