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Er lächelte zurück. »In Ordnung also. Es ist eine große Taverne mit einem Pferdekopf als Schild. Du kannst sie nicht verfehlen. Ich sehe dich dann dort!«

Ich kam so spät auf den Somaplatz, daß ich Philon verpaßte und von Patient zu Patient hinter ihm herjagen mußte, bis ich ihn fand. Aber als ich ihm erklärte, warum ich mich verspätet hatte, freute er sich.

»Ich habe Adamantios gebeten, dir mir zuliebe eine faire Chance zu geben«, erzählte er. »Wir haben bei demselben Lehrer studiert. Deshalb war er einverstanden. Aber er hätte dich nicht nach vorne gebeten, wenn er nicht der Ansicht gewesen wäre, daß du einiges versprichst. Ich dachte mir schon, daß er seine Zusage einhält.« Ich fühlte mich so, als hätte ich die Welt erobert.

Als ich an jenem Abend nach Hause kam, erzählte ich begeistert von Theogenes’ Einladung und schilderte alle Einzelheiten des Sezierens. Die andern waren es gewohnt, daß solche Dinge am Abendbrottisch besprochen wurden, und so verdarb es niemandem den Appetit.

»Wunderbar!« sagte Deborah und lächelte nachsichtig. »Weiß dein Wohltäter eigentlich, wie gut du dich inzwischen hier eingelebt hast?«

Einen Augenblick lang war ich vor Schrecken ganz stumm. Mir wurde plötzlich klar, daß ich seit Wochen kaum an zu Hause gedacht hatte. Ich murmelte etwas, das wie eine Antwort klingen sollte – ich hätte die Absicht, bald zu schreiben –, und wandte mich erneut der Beschreibung der sezierten Leber zu.

Aber als ich in meinem Zimmer war, machte ich mir Sorgen. Ich hatte es immer wieder aufgeschoben, Thorion zu schreiben, da ich nicht wußte, ob er in Ephesus oder in Konstantinopel wohnte. Ich konnte es nicht riskieren, daß der Brief fehlgeleitet wurde und in Vaters Haus landete. Auf dem Markt hatte ich einige der Neuigkeiten aus Asien gehört – in Alexandria treffen die Nachrichten aus der ganzen Welt ein. Mein Verschwinden einen Monat vor der Hochzeit hatte einen riesigen Skandal verursacht. Festinus war angeblich völlig außer sich. Ich konnte mir vorstellen, daß Vater wie gelähmt vor Angst war. Wenn er gewußt hätte, wo ich war, hätte er sofort jemanden losgeschickt, um mich nach Hause zu holen. Und wenn ich erst einmal zu Hause war, würde man mir wieder meine längst überholte, mädchenhafte Bescheidenheit aufzwingen, vielleicht sogar die Ehe. Und man würde vertuschen, wo ich gewesen war. Aber ich mußte Thorion und Maia schreiben. Sie mußten sich inzwischen große Sorgen machen. Doch was konnte ich ihnen erzählen?

»Wir haben heute einen Leichnam seziert. Einer der Studenten hat mich in eine Taverne eingeladen, um mit mir über die Einzelheiten zu sprechen. Gestern hat mich mein Lehrmeister den entzündeten Finger eines Schiffszimmermannes mit einer Pinzette öffnen und anschließend vernähen lassen«? Sie wären entsetzt gewesen. Ich empfand plötzlich Angst. Ein riesiger Abgrund hatte sich zwischen meinem früheren Ich und meinem jetzigen, wirklichen Ich geöffnet, und ich wußte nicht, was die beiden davon halten würden.

Ich ging zum Tisch und goß mir etwas von dem Wasser aus dem Krug ein, dann setzte ich mich. Auf dem Tisch lag ein Buch, eine der Abhandlungen des Herophilos über die Anatomie. Ich nahm es in die Hand und blätterte hin und her. Eine Stelle schien sich auf das Sezieren zu beziehen, und ich begann, ernsthaft darin zu lesen. Nach und nach vergaß ich meine Familie und die immer größer werdende Notwendigkeit, ihr zu schreiben.

Zwei Abende später zog ich los, um Theogenes und die übrigen in der Taverne zu treffen. Ich konnte das Haus, genau wie er es versprochen hatte, überhaupt nicht verfehlen. Es lag an dem öffentlichen Platz gegenüber den an das Castellum angebauten Kasernen, und außer dem großen, vergoldeten Pferdekopf schmückte ein auffallend bemalter Fries von Zechern sein Portal. Daneben standen mehrere Amphoren mit Wein. Ich wartete einen Augenblick lang draußen in der warmen, herrlichen Abendluft und war fast krank vor Nervosität. Von drinnen hörte ich das Geräusch von Stimmen, es waren nicht sehr viele, und sie waren nicht sehr laut, da es noch früh war. Die Taverne hatte auch nicht etwa einen schlechten Ruf. Doch das war es nicht. Hier stand ich, die behütet aufgewachsene Tochter eines Mannes, der die Würde eines Konsuls bekleidete, und war drauf und dran, eine öffentliche Taverne zu betreten. Davon einmal abgesehen, hatte ich furchtbare Angst, was die anderen wohl von mir denken würden, ob sie vielleicht ärgerlich waren, daß Theogenes mich eingeladen hatte. Ich wäre fast umgekehrt und wieder nach Hause gegangen, allein der Gedanke, Philon und seiner Familie alles erklären zu müssen, ließ mich innehalten. Nun, sagte ich zu mir selber, wenn sie glauben, daß du ein eingebildeter, überheblicher Eunuch bist, dann liegen sie falsch. Und was sie auch immer glauben mögen, es darf dir nichts ausmachen. Ich riß mich zusammen und ging hinein.

Im Innern befand sich ein großer Hauptraum, der von einer Anzahl blankgeputzter Messinglampen erleuchtet war, die von der Decke herabhingen. Der Raum war mit Tischen vollgestellt. Ich stand immer noch an der Tür und blickte mich um, als Theogenes meinen Namen rief und ich ihn und die anderen am entgegengesetzten Ende des Raumes entdeckte. Ich eilte zu ihnen, und Theogenes stellte mich den übrigen auf seine forsche Art vor. Vom Sehen kannte ich bereits alle, die meisten sogar mit Namen. Eigentlich hatte ich erwartet, daß sie genau wie Theogenes allesamt Juden waren. Doch sie waren bunt gemischt: Juden, Heiden und Christen; Schüler ganz verschiedener Ärzte und gebürtig aus ganz verschiedenen Städten. Die meisten lächelten, nickten mir zu, als Theogenes ihren Namen nannte, und sahen mich neugierig an. Einer oder zwei machten einen etwas mürrischen Eindruck, aber keiner verlor eine Bemerkung über mein Auftauchen in der Taverne. Theogenes machte mir Platz auf seiner Bank, und ich setzte mich.

»Noch einen Becher für unseren Freund und mehr Wein, Liebling!« sagte Theogenes zu dem Mädchen, das uns bediente, und sah ihr einen Augenblick lang nach, als sie sich gehorsam in Trab setzte, um das Geforderte zu holen. »Ist sie nicht hübsch?« fügte er hinzu, ohne sich dabei an jemanden im besonderen zu wenden. Dann drehte er sich zu mir um: »Wir haben für unsere Diskussionen hier eine Regel aufgestellt, Chariton: nicht über Religion zu sprechen. Jeder, der ein religiöses Thema anschneidet, muß eine Runde ausgeben. Im übrigen teilen wir uns die Kosten und haben unseren Spaß, obwohl wir meistens über medizinische Probleme sprechen. Kannst du mir sagen, was du bei dem Sezieren neulich gelernt hast? Bisher habe ich von jedem, den ich gefragt habe, eine völlig anderslautende Schilderung bekommen.«

Das Thema war so interessant, daß ich meine Nervosität vollkommen vergaß. Als wir mit dem Sezieren endlich durch waren (und ich ein paar Becher Wein geleert hatte), spürte ich, daß ich unter Freunden war und lehnte mich entspannt und zufrieden an die Wand zurück.

»Dein Hippokrates behauptet, daß die Gefäße, die den Samen bei einer Frau in ihre Gebärmutter leiten, die gleichen sind wie diejenigen, die bei einem Mann in den Penis führen. Angeblich kommen diese Gefäße aus dem Kopf und führen über die Nieren«, sagte einer der anderen Studenten spät am Abend. »Ich habe nichts dergleichen entdecken können.«

»Du wußtest eben nicht, wonach du suchen solltest«, sagte Theogenes ein wenig hochmütig.

»Und du warst nicht einmal in der Lage, überhaupt nach etwas zu suchen«, erwiderte sein Freund. »Du warst draußen im Hof.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es da überhaupt etwas zu suchen gab«, sagte ich widerstrebend. »Ich glaube, Hippokrates hat das vielleicht falsch verstanden.«