»Was!« rief Theogenes lachend aus. »Der unsterbliche Hippokrates hat einen Fehler gemacht?«
»Nun, er hat nie jemanden seziert, oder?« erwiderte ich. »Zu seiner Zeit hatten sie damit wohl noch größeren Ärger als heute. Er stellte eben nach bestem Wissen und Gewissen Mutmaßungen an, ohne jemanden aufzuschneiden.«
»Hippokrates behauptet auch, die Blutgefäße eines Mannes gingen durch die Hoden«, fuhr der andere Student fort. »Das sei auch der Grund dafür, warum Eunuchen keine Kinder haben können, weil bei der Entfernung der Hoden diese Verbindung zerstört wird.« Es entstand ein verlegenes Schweigen, und alle starrten mich neugierig an. »Wie war das bei dir?« wollte mein Gegenüber wissen. »Hat es sehr weh getan?«
Ich fühlte mich von neuem bloßgestellt und war plötzlich ganz nüchtern. »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern«, erwiderte ich nach einer verlegenen Pause. »Ich war noch sehr jung damals.«
Der Fragesteller schlug den Blick zu Boden. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich war ganz einfach neugierig.« Ich wußte, daß er an all die unerfreulichen Dinge dachte, die er jemals über Eunuchen gehört hatte.
»Du bist in Ephesus aufgewachsen, nicht wahr«, fragte einer der anderen in das unbehagliche Schweigen hinein. Es hätte eine beiläufige Frage sein können, aber irgendwie klang sie eindringlich, mißtrauisch. »Warum bist du nach Alexandria gekommen?«
Doch ein alexandrinischer Heide namens Nikias mischte sich ein, bevor ich antworten mußte. »Du hättest ihn gar nicht zu fragen brauchen, ob er aus Asien ist«, sagte er mit einer übertrieben wirkenden Unbekümmertheit. Er war einer von denen, die bei meinem Hereinkommen einen abweisenden Eindruck gemacht hatten. Jetzt beobachtete er mich mit einem boshaften Grinsen auf seinem feisten Gesicht. »Ein perfekteres asiatisches Lispeln habe ich noch nie in meinem Leben gehört. ›Hippokratess ssagt, daß‹ – nein, ich kann es nicht.«
Allem Anschein nach waren seine Worte ein harmloser Scherz, aber ich konnte den Unterton von Abneigung spüren, so wie ich in der vorhergehenden Frage das Mißtrauen gespürt hatte. Ich errötete und wurde allmählich ärgerlich. Schließlich war ich in die Taverne eingeladen worden und war ein ebenso guter Student wie sie. Niemand hatte das Recht dazu, mir peinliche Fragen zu stellen und sich über mich lustig zu machen. Ich blickte in die vom Licht der Lampen erhellten Gesichter rings um mich her. Sie beobachteten mich, um zu sehen, wie ich reagieren würde. Theogenes sah immer noch verlegen aus, als habe er allein den Anstand, sich der schlechten Manieren seiner Freunde zu schämen. Das besänftigte meinen Ärger und nötigte mir ein Lächeln ab.
»Du hast also noch nie einen so schlimmen Akzent gehört?« fragte ich. »Du bist hoffentlich nie in Ephesus gewesen. Du solltest mal einige von meiner Fa… von den Freunden meines Wohltäters sprechen hören. ›Mein lieber und höchsst gessätzter Nikias, die Sstute, die du ssoeben erwähnt hast, ist eine ssolche Perle. Ich würde ssie ssofort an einem Wettrennen teilnehmen lassen, doch zßufällig ist ssie gerade jetzt trächtig. Wirklich, mein lieber Freund, ich habe keine Ahnung, wie ssie das gessafft hat!‹« Es war genau der Tonfall, über den Thorion und ich uns seit unserer Kindheit immer lustig gemacht hatten. In Wirklichkeit sprach der alte Pythion so, aber man mußte ihn nicht kennen, um den lispelnden Akzent komisch zu finden. Die Spannung wich, und die anderen Studenten brüllten vor Lachen.
»Bei meiner Seele, das ist gut«, sagte Theogenes. »Dein Wohltäter hat also Pferderennen veranstaltet?«
»In Ephesus nannten sie ihn ›Meister der Pferderennens Vielleicht habt ihr von ihm gehört – es ist der höchst vortreffliche Theodoros.«
Theogenes schüttelte den Kopf. Doch einer der anderen, ein Sidonier, rief sofort, er habe eines der Pferde des Theodoros bei einem Rennen in Tyrus siegen sehen, und die ganze Unterhaltung wechselte auf das Thema Wagenrennen und auf die beliebtesten Wagenlenker der hiesigen Pferderennbahn über. Als die Gesellschaft aufbrach und nach Hause ging, wünschten mir die anderen mit der Herzlichkeit alter Freunde gute Gesundheit. Ich antwortete im gleichen Tonfall. Im großen und ganzen hatte ich den Abend genossen, und ich spürte, daß ich eine schwierige Prüfung bestanden hatte. Aber ich schwor mir, den anderen gegenüber vorsichtiger zu sein und in ihrer Gesellschaft niemals zuviel zu trinken. Ich würde meine fünf Sinne benötigen, wenn ich mit ihnen zusammen war.
3
Ich zögerte den Brief an Thorion noch einen weiteren Monat hinaus. Aber als es September wurde, wußte ich, daß ich schreiben mußte, und zwar vor Einbruch des Winters, um ihn und Maia wissen zu lassen, daß ich in Sicherheit war. Später war es nicht mehr möglich, Briefe abzuschicken. Außerdem war ich mir sicher, daß Thorion inzwischen in Konstantinopel sein würde. So setzte ich mich an einem klaren, warmen Spätsommerabend in mein Zimmer, nahm ein Stück Papyrus und einige Federn in die Hand und schrieb auf die Vorderseite: »Chariton von Ephesus an seinen Wohltäter Theodoros, Sohn des Theodoros von Ephesus. Mit vielen Grüßen.«
Dann saß ich da und starrte minutenlang auf den Papyrus. Durch das Fenster konnte ich sehen, wie meine Nachbarin ihr Zimmer ausfegte. Sie winkte mir zu, und ich winkte zurück. Ich mußte vorsichtig sein mit dem, was ich schrieb. Ich würde den Brief einem Kornschiff mitgeben, und Seeleute waren dafür bekannt, die ihnen anvertraute Korrespondenz zu öffnen, um sich während ihrer langen Reise an ihr zu ergötzen. Ich kaute auf dem Ende meines Federkiels herum. Maia hatte diese Angewohnheit immer mißbilligt. »Du bekommst bei Tisch schließlich genug zu essen!« pflegte sie zu sagen. »Du hast es nicht nötig, wie eine Maus an Schilfrohrfedern zu nagen.«
Die Erinnerung daran ließ mich lächeln. Liebe, ehrliche Maia, die sich solche Gedanken machte! Lieber Thorion, der du vor lauter Sorgen so finster dreinschaust! Rasch schrieb ich den Brief.
Vortrefflicher, ich wollte dir schon früher schreiben, aber ich wußte nicht, ob du schon in Konstantinopel sein würdest. Ich hoffe, es geht dir gut, und ich hoffe vor allem, daß dir nicht irgendwelche lästigen Menschen mit ihrer Feindseligkeit Ärger bereitet haben. Was mich anbetrifft, so bin ich hier in Alexandria sehr glücklich und kann mir keine größere Befriedigung vorstellen, als so zu leben, wie ich jetzt lebe. Die Ärzte des Museums halten viel von mir und sagen, daß ich große Fortschritte in meinem Studium mache. Ich bin Assistent eines gewissen Philon, eines Juden, der mit dem Museum in Verbindung steht, und ich wohne in seinem Haus, in der Nähe des Sonnentores. Er ist ein geschickter und freundlicher Lehrmeister, und ich verdanke ihm sehr viel. Grüß Maia von mir. Nimm, lieber Thorion, meine höchste Wertschätzung entgegen. Ich bleibe dein gehorsamer Diener.
Es war kein großartiger Brief. Aber wenn ich ihn losschickte, würde Thorion wissen, daß ich in Sicherheit war und daß es mir gutging. Und er würde mir zurückschreiben können. Ihm mehr zu erzählen, ihm zu beschreiben, wie ich lebte, würde nur bedeuten, ihm die Kluft zu verdeutlichen, die sich zwischen uns aufgetan hatte, etwas, wovor ich mich fürchtete. So faltete ich das Blatt zusammen, siegelte es und adressierte es: »An den vortrefflichen Herrn Theodoros, Sohn des Theodoros, im Amt des prätorianischen Präfekten.« Auf diese Weise müßte der Brief ihn erreichen.
Ich stand auf, goß mir einen Schluck Wasser ein, dann ging ich hinunter und nahm den Brief mit. Es war der Abend vor dem Sabbat, und die Familie war unten und stellte Kerzen auf. Philon beobachtete die jüdischen Gesetze sorgfältig, genau wie ich Theogenes erzählt hatte. Der Sabbat wurde von allen im Haus eingehalten, sogar von den heidnischen Sklaven, obwohl diese, wie auch ich, nicht zum Gottesdienst mitgingen. Philon gehörte nicht zu den bekehrungswütigen Juden, die man manchmal auf dem Markt predigend antrifft, und er versuchte nie, mich dazu zu überreden, an irgendwelchen jüdischen Riten teilzunehmen – obwohl der jüdische Gottesdienst sich, soweit ich das beurteilen konnte, nicht allzu sehr von dem christlichen unterscheidet. Die Juden lasen die Heilige Schrift in der gleichen Übersetzung und sangen die Psalmen nach den gleichen Melodien. Die Malereien und Mosaiken ihrer Synagogen stellten vielfach die gleichen Szenen dar, wie ich sie aus der Kirche kannte, und sie beteten auf ganz ähnliche Weise. Natürlich, die alexandrinischen Juden waren ein besonderer Schlag. Viele der Gebildeten sind Platoniker, genau wie viele gebildete Christen. Ähnlich wie Adamantios kennen sie die heidnischen Klassiker sehr gut, und sie legen ihre Heiligen Schriften eher sinnbildlich aus. Philon unterschied sich von ihnen. Er gehörte einer strenggläubigen jüdischen Sekte an, die heidnische Literatur oder heidnische Philosophie ablehnte. Aber er schien wegen dieser Tatsache ziemlich verlegen zu sein und versuchte niemals, seinen Glauben irgend jemandem aufzudrängen. Deborah lächelte mir zu. »Nun, gehst du noch ein wenig aus?«