Thorion sah mich finster an. »Ist sie tot?« fragte er. Er wußte natürlich von der Drossel. Ich hatte sie ihm gezeigt, nachdem ich ihren Flügel geschient hatte, und er war ziemlich beeindruckt gewesen, obwohl er sie im Grunde genommen lieber in Honig gedünstet gesehen hätte.
»Ich würde dich wohl nicht um deine Messer bitten, wenn sie noch am Leben wäre, oder?«
Thorion bedachte mich schon wieder mit einem finsteren Blick.
»Wozu soll das gut sein? Ich kann ja noch verstehen, daß man einem kranken Tier helfen möchte, aber es nach seinem Tod einfach aufzuschneiden…« Thorion und ich hatten uns schon oft deswegen in den Haaren gehabt, aber ich seufzte ergeben und legte ihm meinen Standpunkt noch einmal dar: »Wenn ich verstehe, warum die Drossel gestorben ist, werde ich ihr das nächste Mal eher helfen können.«
»Wieso beim nächsten Mal? Der Vogel ist doch tot!«
»Beim nächsten Vogel. Oder dem nächsten Tier.«
»Oder dem nächsten Menschen? Würdest du auch Menschen aufschneiden, um zu sehen, warum sie gestorben sind?«
»Die Chirurgen der medizinischen Fakultät von Alexandria tun es. Sie können die Krankheiten besser behandeln, wenn sie wissen, wie der Körper funktioniert. Galen hat es auch getan.«
»Dann werde ich diese Abschnitte aus dem Galen bestimmt nicht kopieren«, sagte Thorion. »Und was die Ärzte in Alexandria tun, das spielt keine Rolle, Charition. Du bist kein Arzt.«
»Immerhin kann ich Medizin studieren, wenn ich will.«
»Das solltest du aber nicht. Es schickt sich nicht für eine Frau. Für eine Dame.«
Ich schnaubte wütend. »Nun, wenn ich erst einmal erwachsen und verheiratet bin, werde ich tun können, was ich will. Und ich will Ärztin für meinen eigenen Hausstand sein. Ich werde meinem Mann Geld ersparen.«
»Welcher Mann würde schon eine Ärztin heiraten wollen?« fragte Thorion, aber er gab nach. Geld zu sparen war für ihn stets ein überzeugendes Argument.
»Also gut«, meinte er. »Die Messer findest du im Kasten in der Mitte der Kleidertruhe.«
»Danke«, sagte ich. Ich ging zu ihm, gab ihm seine Schreibtafel zurück und gab ihm einen Kuß. »Ich wußte doch, daß du mir hilfst.«
Er grunzte: »Sei vorsichtig. Ich habe Angst, daß dich jemand dabei überrascht und dich der Schwarzen Magie beschuldigt.«
»Könnte denn jemand reinkommen?« fragte ich. Die Leute hatten kürzlich wegen eines Falles von Schwarzer Magie verrückt gespielt: Man war einem Wagenlenker auf die Schliche gekommen, der auf der Rennbahn Verwünschungen gegen drei seiner Rivalen benutzt hatte, darunter auch gegen einen Fahrer meines Vaters. Vaters Mann wurde krank und erholte sich erst, als in dem Hypokaustum unter seinem Schlafzimmer eine gekreuzigte Kröte entdeckt wurde. Ich war sehr überrascht gewesen: Eigentlich hatte ich geglaubt, der Mann litte an einem Darmfieber. Aber Wagenlenker arbeiteten immer mit Schwarzer Magie. Der Wagenlenker meines Vaters tat immer sehr wissend, wenn das Thema zur Sprache kam, obwohl er nicht gerne darüber sprach. Man behauptete, auch er habe sich mehrerer Rivalen durch Magie oder Vergiften entledigt. Bestimmt würde jeder, der in unserem Haus dabei überrascht wurde, den Körper eines kleinen Tieres zu verstümmeln, sofort der Magie beschuldigt werden, selbst wenn es sich dabei um die Tochter des Hauses handelte.
Thorion zuckte die Achseln. »Vater hat Besuch. Jemand Wichtiges, glaube ich. Sämtliche Sklaven rennen wie wild durcheinander, um dieses oder jenes für ihn und sein Gefolge zu holen. Nein, ich glaube, du bist sicher in meinem Zimmer. Aber verriegele bitte die Tür, ja?«
Ich nickte und rannte durch das Haus zurück. Die Sklaven taten äußerst geschäftig. Ich mußte zwei Hausburschen ausweichen, die einen Tisch einen der Flure hinuntertrugen, und als ich durch die Küche kam, schien der halbe Haushalt dort versammelt zu sein und über den Besucher und sein Gefolge zu tratschen. Vielleicht war es doch kein so geeigneter Zeitpunkt, ein Tier zu sezieren. Andererseits war es unwahrscheinlich, daß in einem solchen Augenblick jemand in die Nähe von Thorions Zimmer käme. Und ich mußte mich mit dem Sezieren beeilen, solange der Kadaver noch warm war. Dann konnte ich ihn rupfen und Philoxenos zum Kochen geben, und er würde wahrscheinlich glauben, ich hätte mich nur hilfsbereit zeigen wollen.
Als ich wieder bei den Pferdeställen war, hatte Philoxenos die Stuten in ihre Boxen gebracht und war dabei, sie zu striegeln. Er nahm nicht einmal Notiz von mir, als ich auf den Heuboden hinaufkletterte und die Drossel holte. Ich legte den Vogel in die Gürteltasche, die Vater mir geschenkt hatte. Es war eine Ledertasche, die groß war und praktisch und außerdem einen Satz Schönheitsutensilien enthielt. Mein Vater hatte sie mir zum letzten Fest geschenkt, nachdem bei den Pferderennen zwei unserer Wagenlenker gewonnen hatten. Ich hatte ihm gegenüber geschwärmt, es sei das schönste Geschenk meines Lebens, und ich meinte es auch wirklich so. Die Schönheitsutensilien – die Haarschere, die kleine Pinzette, um Lidschatten aufzutragen, das winzige Rasiermesser an einem ziemlich langen Stiel – ließen sich auch hervorragend als chirurgische Instrumente verwenden. Mir fehlten nur die größeren Messer. Das einzige Ärgernis bestand darin, daß ich meine Schönheitsutensilien gelegentlich auch für kosmetische Zwecke benutzen mußte.
Ich kletterte die Leiter wieder herunter, zupfte mir noch einmal die Strohhalme ab, brachte meine Haare in Ordnung und ging ins Haus zurück. Jetzt herrschte dort keine solche Geschäftigkeit mehr: Der Besucher und sein Gefolge waren versorgt, und alle konnten ein wenig aufatmen. Ich fragte mich einen Augenblick lang, wer der Mann sein mochte: der Aufregung nach zu urteilen jedenfalls jemand Wichtiges. Aber mein Vater hatte einen Haufen wichtiger Freunde, und sie kamen öfter zu Besuch. Dann erörterten sie lebhaft, wer bei den nächsten Rennen anläßlich des nächsten Festes mit welchen Pferden antreten würde. Das interessierte mich recht wenig.
Ich war gerade auf dem Flur, an dem Thorions Zimmer lag, als sich die Tür des Nachbarzimmers, das ich mit meinem Kindermädchen teilte, öffnete und Maia herauskam. »Da bist du ja!« rief sie triumphierend. »Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen? Ich habe dich überall gesucht.«
Verdammt. »Ich war unten im Pferdestall«, sagte ich wahrheitsgemäß, »und habe Philoxenos bei der Arbeit zugesehen. Dann habe ich Thorion bei seinem Latein geholfen.«
»Also wirklich, Thorion geholfen! Es schickt sich überhaupt nicht für dich, dich um sein dummes Latein zu kümmern, um diese törichte, barbarische Sprache! Du hast Stroh im Haar; wo hast du dich denn herumgetrieben? Hast du im Stroh gelegen, um den Pferden zuzusehen? Wirklich sehr ungehörig!«
Maias wirklicher Name war Elpis, »Hoffnung«. Sie war eine fromme Christin und sehr stolz auf ihren Namen. Aber alle Kinder nennen ihre Ammen Maia. Sie war eine magere, knochige Frau, mit Armen wie Lederschnüre und glattem rotem Haar, das allmählich grau wurde. Ihr Vater war ein skythischer Barbar gewesen, der in irgendeinem Krieg gefangengenommen wurde, und ihre Mutter war die Haussklavin eines Kaufmannes aus Ephesus. Ihr Mann war an Lungenentzündung gestorben, und ihr kleiner Junge starb, als er gerade einen Monat alt war. Da damals auch meine Mutter gerade gestorben war und mein Vater eine Amme für mich brauchte, kaufte er sie für sechzig Solidi. Mit der Zeit war Maia auch Thorions Kindermädchen geworden. Sie verfügte in unserem Haushalt über eine beträchtliche Machtstellung, sowohl aufgrund ihrer Position als Hüterin der Kinder des Gebieters als auch aufgrund der ihr angeborenen Gewitztheit – denn sie war eine Frau mit scharfen Augen und einem scharfen Verstand, eine Frau, der nicht so leicht etwas entging. Eine weniger ehrliche Frau hätte vielleicht versucht, ein Vermögen anzuhäufen, indem sie sich für ihren Einfluß bezahlen ließ oder kleine Diebstähle beging; eine leichtfertigere Frau hätte vielleicht danach getrachtet, die Konkubine meines Vaters zu werden.