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Ich trat noch etwas dichter an die Tür heran und lauschte. Ich wollte unbedingt wissen, was sie vermuteten, um eventuell irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Die Straße war dunkel und menschenleer, das Holz der Tür an meiner Backe fühlte sich rauh an. Goldfarbenes Licht sickerte durch eine Ritze.

»Ich glaube, da steckt mehr dahinter, als er zugibt«, meinte Philon nachdenklich. »Er ist ein äußerst intelligenter Bursche, der außerdem sehr gut erzogen ist: Er kann stundenlang Homer zitieren. Vielleicht wollte sein Wohltäter gar nicht, daß er nach Alexandria geht.«

»Glaubst du, daß er in Wirklichkeit ein Sklave ist?« fragte Deborah. »Daß er fortgelaufen ist?«

»Nei… ei… n. Adamantios dachte das anfangs, aber ich bin eigentlich nicht geneigt, etwas Derartiges anzunehmen. Chariton verhält sich nicht wie ein Sklave – ich kann mir nicht vorstellen, daß er überhaupt weiß, wie man einen Fußboden wischt. Aber ich glaube auch nicht, daß sein Wohltäter diese Briefe geschrieben hat. Ich habe mich ein wenig nach Theodoros von Ephesus erkundigt. Er ist ein reicher Mann im Rang eines Konsuls, und die Familie hat immer in kaiserlichen Diensten gestanden. Daher stammt wohl auch das Vermögen. Jetzt gibt es wieder einen Sohn bei Hof, einen weiteren Theodoros. Er denkt wahrscheinlich nicht einmal im Traum daran, Medizin könne ein ernst zu nehmender Beruf sein. Er wäre bestimmt nicht damit einverstanden, daß sein Schützling etwas Derartiges studiert, wenn ein aussichtsreicherer Beruf winken würde.«

»Warum sollte er gegen den Willen seines Wohltäters hergekommen sein?« Das war Theophila. »Er tut mir leid. Es ist wirklich schrecklich, was die Perser ihm angetan haben. Dabei sieht er so gut aus.«

Philon lachte. »Und was hat Charitons Aussehen damit zu tun?«

»Oh, nichts. Er tut mir nur leid, vor allem, wenn sein Wohltäter ihm nicht helfen will. Dabei hat er schon soviel Pech gehabt! Und ich weiß nicht, warum er hergekommen ist, wenn er bei Hof sein Auskommen haben und sehr reich werden könnte.«

»›Die erste Voraussetzung für das Studium der Heilkunst‹«, erwiderte Philon und zitierte unseren gemeinsamen Lehrmeister Hippokrates, »›ist eine angeborene Neigung dafür.‹ Und die empfindet unser Chariton ganz sicherlich. Selbst, wenn er fortgelaufen ist, hat er ganz recht daran getan: Eine Begabung wie diese sollte nicht vergeudet werden. Er wird sicher einmal ein bedeutender Arzt. Aber ich habe noch etwas anderes über diesen Theodoros gehört.«

Es entstand eine Pause. Ich stellte mir Philon vor, wie er darauf wartete, daß der Rest der Familie ihn erwartungsvoll ansah und fragte, was. Ich wartete ebenfalls und hielt meinen Atem an.

»Was?« fragte Theophila, genau wie erwartet, und sie kicherte dabei.

»Es scheint, daß er eine Tochter hat«, sagte Philon, »ein sehr hübsches Mädchen, die eine große Mitgift erwarten kann. Der Statthalter Asiens wollte sie heiraten. Du bist zu jung, um dich an die Zeit zu erinnern, als Gallus hier herrschte, Theophila, aber du hast sicherlich irgendwelche Geschichten darüber gehört. Nun gut, dieser Festinus ist genau vom gleichen Schlag, nur daß er nicht von so vornehmer Geburt ist, eher von sehr niedriger. Und die Familie des Theodoros war dagegen, das Mädchen mit diesem Rohling zu verheiraten.«

»Das arme Mädchen!« sagte Theophila. »Und was passierte dann?«

»Sie verschwand einen Monat vor ihrer Hochzeit. Das war im vorigen April, kurz bevor Chariton hier in Alexandria auftauchte. Die Geschichte hat in ganz Asien großes Aufsehen erregt. Der Vater des Mädchens behauptet, keine Ahnung zu haben, wohin sie verschwunden sein könnte. Der Statthalter ist wütend, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als dem Theodoros zu glauben.«

Ich hielt den Atem an. Die Schlußfolgerung in bezug auf meine Person schien unvermeidlich. Ich fragte mich flüchtig, ob Philon mich nach wie vor bei ihm lernen lassen würde. Ich glaubte eher nicht, wenn er erfuhr, daß ich eine Frau war. Ich fragte mich, was er wohl tun werde.

»Glaubst du, daß Chariton etwas mit dem Verschwinden dieses Mädchens zu tun hat?« fragte Deborah.

»Hm. Er sagt, er sei ein Vetter ihres Erziehers. Man behauptet, ihr Bruder sei in das Verschwinden verwickelt. Aber um zu erreichen, daß sich eine junge, vornehme Frau in Luft auflöst, braucht man mehr als eine Person, die in die Verschwörung verwickelt ist. Ich vermute, daß Chariton einige Vorkehrungen für das Mädchen getroffen hat oder daß man ihn zumindest verdächtigt, etwas dergleichen getan zu haben. Deshalb ist er vielleicht nach Alexandria geschickt worden: um dem Statthalter nicht unter die Augen zu kommen! Dahinter kann auch der Bruder des jungen Mädchens, der jüngere Theodoros, stecken und nicht der Vater. Das würde Charitons plötzliches Auftauchen hier erklären und seinen Mangel an Geld. Ich frage mich, an welchen Theodoros er diesen Brief wohl geschrieben hat? Um diese Jahreszeit könnte er ihn gar nicht nach Ephesus schikken. Ich vermute, er ging an seinen Freund, diesen jungen Mann in Konstantinopel.«

Man sagt, der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand, aber ich erhielt den Beweis, daß dies nicht immer stimmte. Ich mußte noch einen Augenblick länger auf den Stufen stehenbleiben und versuchen, meine Freude zu zügeln. Wieso errieten sie die Wahrheit nicht? Lag es einfach daran, daß ich in meinem Studium wirklich so gut war? Daß die Wahrheit ganz einfach zu unwahrscheinlich klang? Es spielte keine Rolle. Ich war sicher in Sicherheit.

Ich klopfte; Harpokration öffnete mir die Tür und ließ mich ein. »Seid mir gegrüßt!« sagte ich zu den versammelten Mitgliedern der Familie. »Oliven, frischer Käse, Zaunrübenwurzel und Opium. Und hier ist dein Wechselgeld, vortrefflicher Philon.«

»Hast du etwas gegessen?« fragte Deborah. »Nein? Dann setz dich und nimm dir. Du siehst glücklich aus.«

»Das bin ich auch«, sagte ich. »Ich habe gerade gemerkt, wie sehr mir diese Stadt zur Heimat geworden ist. Ich danke euch.«

4

In jenem Herbst verstand ich, warum es für Philon von Nutzen sein würde, einen christlichen Assistenten zu haben. Wir hatten unter unseren Patienten – und zwar vor allem unter jenen der ärmeren Klasse – plötzlich einen Haufen Leute mit Viertagefieber, Wassersucht und Typhus. Ein Patient in einer einigermaßen ordentlichen Familie, selbst ein Sklave in einem anständigen Haus hat durchaus die Möglichkeit, sich von solchen Leiden zu erholen. Aber wenn arme Männer oder Frauen krank wurden, hatten sie oft niemanden, der sie pflegen oder ihnen etwas zu essen bringen konnte. Sie versuchten, nach wie vor zu arbeiten, schwächten sich damit nur immer weiter und starben schließlich, falls sie nicht in ein Hospital geschafft werden konnten.

Die großen Hospitäler Alexandriens waren barmherzige Einrichtungen, die von dem beim Volk sehr beliebten Erzbischof Athanasios geleitet wurden. Sie wurden auf Kosten der Kirche unterhalten, und man pflegte und ernährte dort viele schwerkranke Menschen, bis sie sich entweder erholten oder starben. Insofern waren sie angesehene und bewundernswerte Einrichtungen.

Doch sie bereiteten Philon ununterbrochen Ärger. Das Problem bestand darin, daß die Krankenpfleger in diesen Hospitälern fast alle Mönche waren. Bevor ich nach Alexandria kam, hatte ich keine Mönche kennengelernt. Ich hatte zwar von ihnen gehört, doch man sprach von ihnen immer nur als schmutzige, dumme Bauern, als Männer, die von zu Hause fortgelaufen waren, um keine Steuern bezahlen zu müssen. Die Ägypter jedoch bewunderten die Mönche außerordentlich – sie bewundern alle Asketen, mögen es nun Heiden oder Christen sein. Nachdem ich ein paar von ihnen kennengelernt hatte, mußte ich zugeben, daß sie mehr als nur faule Steuerflüchtlinge waren. Sie waren aus dem Stoff, aus dem Märtyrer gemacht werden: voller Hingabe gottesfürchtig, redlich und selbstlos. Mit bewundernswertem Mut und großer Geduld pflegten sie die Opfer der ansteckendsten und gefährlichsten Krankheiten. Aber auf der anderen Seite waren sie schmutzig, ungebildet, unwissend und, was das Schlimmste von allem war, fanatisch. Sie nahmen nicht gerne Patienten auf, wenn ein jüdischer Arzt sie empfohlen hatte.