Eines Abends in der Taverne versuchte ich, Theogenes und den anderen die Situation zu erklären.
»Wir hatten einen armen alten Wasserverkäufer zum Patienten«, erzählte ich. »Er bekam Typhus, und seine einzig lebende Verwandte war eine Tochter in irgendeinem Dorf am oberen Nil. Philon und ich gingen zu dem Hospital in der Nähe der Kirche von St. Markus und versuchten, die Mönche dazu zu bringen, den Mann aufzunehmen. Aber Philon mußte sich Schmähreden über die Juden anhören und brauchte seine ganze Geduld und Überredungskunst, ehe die Mönche sich schließlich beruhigten und unseren Patienten aufnahmen.«
»Willst du damit sagen, daß sie gegenüber vernünftigen Argumenten offen sind?« wollte Theogenes mit spöttischem Erstaunen wissen. »Ich dachte immer, sie sind wie wilde Tiere. Mein Urgroßvater wurde von solchen Männern hier in Alexandria ermordet. Das war auch der Grund dafür, warum meine Familie nach Antiochia gezogen ist.«
»Was meinst du mit ›solchen Männern‹? Zu Lebzeiten deines Urgroßvaters gab es doch noch gar keine Mönche. Das Christentum war vor dem Gesetz noch nicht einmal anerkannt.«
»Dann eben von unwissenden ägyptischen Bauern.«
»Das ist keineswegs dasselbe.«
»Sie benehmen sich aber so, als ob es dasselbe wäre.«
»Du hast Glück, daß du nichts mit ihnen zu tun hast«, warf ein anderer Student, Kallisthenes aus Sidonia, ein: »Du würdest bestimmt deine Beherrschung verlieren, und es würde einen regelrechten Aufstand geben.« Theogenes grinste, doch die Alexandriner, die mit uns am Tisch saßen, runzelten die Stirn.
»Ihr Fremden wißt überhaupt nichts von Aufständen«, meinte Nikias. »Beim nächsten Aufstand werden die Mönche mitten drin stecken. Und dann wird man nichts mehr zu lachen haben.«
Wir hörten auf zu lachen. »Was willst du damit sagen?« fragte Kallisthenes. »Warum glaubst du wohl, haben diese Mönche soviel Angst davor, verraten zu werden?« fragte Nikias ungehalten. »Sie erinnern sich nur allzugut an die letzten Male, als der Erzbischof des Landes verwiesen wurde. Oder hast du in Sidon nichts davon gehört? Es gab Auspeitschungen, Folterungen und eine Hinrichtung nach der anderen, doch das beendete den Aufstand keineswegs. Der Kaiser und einige seiner Bischöfe versuchten, fremde Bischöfe auf dem Thron von St. Markus zu installieren, doch die hiesigen Christen, vor allem jedoch die Mönche, wollten nichts von ihnen wissen. Das letztemal ging das über vier Monate so. Schließlich wurden sogar die Kornlieferungen nach Konstantinopel eingestellt, so daß der Kaiser nachgab und dem Erzbischof die Rückkehr erlaubte. Aber alle wissen, daß die ganze Sache von vorne beginnt, sobald seine Heiligkeit Athanasios stirbt. Der Hof sympathisiert mit der arianischen Partei, die hiesigen Christen sind jedoch meistens Nizäer. Darüber hinaus wollen die geistlichen Behörden nicht, daß noch einmal ein Bischof so mächtig wird wie Bischof Athanasios. Natürlich sind die Mönche gegenüber Juden und Eunuchen mißtrauisch; sie sind jedem gegenüber mißtrauisch, von dem sie glauben, er sei vielleicht dem Kaiser oder sonst einem ihrer Feinde treu ergeben.«
»Ist es denn wahrscheinlich, daß Athanasios bald stirbt?« fragte Kallisthenes ängstlich.
Nikias zuckte mit den Schultern und goß sich noch etwas Wein ein. »Ich weiß nicht, er ist immerhin ein alter Mann und glaubt nicht an Ärzte, das heißt, er vertraut ihnen nicht. Er kann jeden Augenblick sterben. Auf der anderen Seite ist er ein Schüler des heiligen Antonius, des Einsiedlers, und der wurde über hundert Jahre alt.«
»Wie viele Christen gibt es in Alexandria?« fragte Theogenes nachdenklich.
»Das mögen die Götter wissen!« rief Nikias geringschätzig aus.
»Die halbe Stadt besteht aus irgendwelchen Galiläern dieser oder jener Glaubensrichtung, obwohl sie nicht alle derart brave orthodoxe Nizäer sind, wie seine Heiligkeit gerne glauben möchte. Aber du darfst dabei nicht nur an die Alexandriner denken. Der Erzbischof ist der Metropolit der gesamten Diözese, nicht nur dieser Stadt, ja nicht einmal nur dieser Provinz. Und er ist überall populär. Du findest hier in Alexandria nun einmal nicht viele Leute, welchen Glaubens auch immer, die die Behörden unterstützen und sich gegen ihn stellen würden. Was nach seinem Tode auch immer passiert, die Christen werden keinen solchen Bischof mehr bekommen.«
»Aber ich dachte immer, er sei ein absoluter Niemand!« protestierte Kallisthenes, ein Neoplatoniker aus guter Familie.
»Man behauptet, daß er manchmal sogar auf koptisch predigt und nicht einmal ein richtiger Grieche ist!«
»Das stimmt auch«, gab Nikias zu. »Aber er ist Alexandriner. Und wenn ich eine gerichtliche Auseinandersetzung hätte, würde ich meine Sache vor dem bischöflichen Stuhl vertreten und nicht etwa vor den Statthalter bringen. Beim Bischof brauchst du nicht Unsummen an Bestechungsgeldern zu zahlen. Die Sache nimmt sehr viel weniger Zeit in Anspruch als vor dem Provinzialgericht, und du wirst nicht von irgendwelchen Wärtern geschlagen. Außerdem ist der Erzbischof unparteiisch. Und Athanasios und seine Mönche und Nonnen kümmern sich um das einfache Volk – da gibt es zum Beispiel außer den Hospitälern auch die mildtätigen Einrichtungen, die armen Mädchen zu einer Mitgift, den Armen zu billiger Kleidung und den Bettlern zu Nahrung verhelfen. Gut, der Pöbel ist dankbar dafür. Jedesmal, wenn auch nur das Gerücht umgeht, seine Heiligkeit sei krank, ist die Lage in der ganzen Gegend sofort gespannt. Du wirst es ja erleben. Es wird kein Jahr dauern bis zum nächsten Aufstand.«
»Wie ist der Erzbischof denn so?« fragte ich, als die Anwesenden diese Behauptung verdaut hatten.
»Du bist doch hier der Christ!« sagte Nikias. »Bist du denn nicht in der Kathedrale gewesen und hast ihm zugehört?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich halte mit meinem Lehrmeister zusammen schon den Sabbat ein. Ich kann mir nicht noch einen weiteren Ruhetag in der Woche leisten. Ein oder zweimal bin ich in der Kirche von St. Markus gewesen, wenn die Vorlesungen etwas später begannen, mehr nicht. Hast du ihn niemals gesehen?«
Nikias sah ertappt aus. »Ich war ein paarmal in seinen Andachten«, gab er zu. »Er kann reden. Ich glaube nicht, daß er weitere Unruhen wünscht – aber er ist alt. Bis zum Frühjahr wird es einen Aufstand geben, ich könnte jede Wette eingehen.«
Aber in jenem Herbst und auch in dem darauffolgenden Winter gab es keinerlei Aufstände. Die alexandrinischen Winter sind kalt und naß. Die Schiffe bleiben im Hafen, machen an den Kais fest oder werden auf den Strand hinaufgezogen, um sie vor den Stürmen in Sicherheit zu bringen. Nebel steigen aus dem Mareotis-See und vermengen sich mit dem Rauch der unzähligen Kohlenbecken der Stadt: Über Alexandria liegt dann ständig ein naßkalter Dunst. Unsere Patienten bekamen fiebrige Krankheiten, die jetzt mehr auf die Lunge als auf den Magen schlugen. Es gab Lungenentzündungen, Brustfellentzündungen und unzählige Erkältungen, die uns in Trab hielten, dazu die üblichen Knochenbrüche oder schwierige Geburten. Aber keine Aufstände.
Ende Januar überließ Philon es mir, mich um einen seiner Patienten zu kümmern. Er hatte dies bereits ein paarmal zuvor erlaubt, doch die anderen hatten lediglich an leichten Krankheiten oder kleineren Verletzungen gelitten. Diesmal handelte es sich um einen schwerkranken Mann. Es war der alte Händler, der einen so guten Preis für die Ohrringe meiner Mutter gezahlt hatte. Er hieß Timon, war Witwer und hatte einen Sohn und zwei Töchter. Ihn quälte ein Fieber sowie ein starker, trockener Husten, und er war schon länger krank, als sein Sohn Philon um Hilfe bat.
Philon nahm die erste Untersuchung vor und blickte ziemlich finster in die Welt, als er fertig war. »Du hättest mich früher rufen lassen sollen«, sagte er dem alten Mann.
Der alte Timon hob seine Hände in einer hilflosen Geste. »Ich wollte meine Arbeit nicht im Stich lassen. Du kennst mich ja.«