»Wie soll ich das denn wissen? Ich habe ihn ganze zehn Minuten gesehen«, entgegnete ich gereizt. »Er machte einen sehr intelligenten und sehr scharfsichtigen Eindruck auf mich, aber mehr kann ich auch nicht sagen.«
»Aber wie konnte er diese persönliche Angelegenheit über dich herausfinden, wenn du nicht einmal uns sagen willst, um was es sich dabei handelt?« wollte Nikias wissen.
»Ich weiß auch nicht, wie er darauf gekommen ist. Vielleicht hat Gott es ihm wirklich offenbart. Vielleicht hatte er ja auch nur Glück bei einer Vermutung.«
»Die Leute behaupten, er sei ein Zauberer«, meinte Nikias zweifelnd. Als Heide neigte er dazu, über göttliche Offenbarungen von Christen zu spotten, er glaubte ebensosehr an die magischen Kräfte des Menschen wie Äskulaps wundersame Heilkraft.
»Das ist Unsinn«, sagte ich entschieden. »Beschuldigungen wegen Zauberei sind meistens nichts als schmutzige Verleumdung. Und ich glaube, die Geistlichkeit gehört so ungefähr zu der einzigen Kategorie von Ägyptern, die nie etwas dergleichen praktiziert hat.«
»Aber Athanasios kann die Zukunft vorhersagen«, behauptete Nikias ganz ernsthaft. »Einmal wurde er in seiner Sänfte die Somastraße hinuntergetragen, als er an die Kreuzung kam, an der er zum Tempel abbiegen mußte. Auf der geweihten Säule dort hatte sich eine Krähe niedergelassen, und eine große Menschenmenge erörterte lebhaft diskutierend, was das zu bedeuten habe. Athanasios ließ anhalten und erklärte der Menge, die Krähe sage ›cras‹, das ist wohl ein lateinisches Wort …«
»Es heißt ›morgen‹«, half ich aus. »Aber zeig mir doch eine Krähe, die nicht so etwas sagt!«
»Aber diese Krähe saß auf der geweihten Säule der Serapis! Und Athanasios erklärte, es bedeute, am nächsten Tag werde die zu Ehren jener Göttin vorgesehene Prozession abgesagt werden. Und genau dies geschah. Am nächsten Tag veröffentlichte der Präfekt einen Erlaß, der heidnische Prozessionen für ungesetzlich erklärte.«
Ich dachte an den amüsierten Ausdruck in Athanasios’ Augen und lachte. »Wahrscheinlich hat er sich nur einen Scherz erlaubt«, sagte ich zu Nikias. »Vielleicht hat er von jemandem aus dem Amt des Präfekten von der Absage der Prozession erfahren.« Mein Weinbecher war leer, deshalb füllte ich ihn aus der Karaffe, die zum Mischen auf dem Tisch stand, nach.
»Du glaubst immer, mehr zu wissen als alle anderen«, meinte Nikias ärgerlich.
»Ach, um Himmelswillen! Da gibt es eine ganz natürliche Erklärung für deine kleine Geschichte, und du mußt unbedingt Zauberei und irgendwelche Omen und was weiß ich nicht alles ins Spiel bringen. Ich glaube, Athanasios hat sich nur über Leute wie dich lustig gemacht. Das sähe ihm sehr ähnlich.«
»Du hast so viele Vorurteile gegen Wunder, daß du nie eines zugeben würdest, selbst wenn es dir zustieße!« gab Nikias giftig zurück. »Jedesmal, wenn ich dir von einer wunderbaren Heilung erzähle, die von dem großen Gott Äskulap bewirkt worden ist, behauptest du entweder, sie sei gar nicht erfolgt, oder aber, sie habe eine natürliche Ursache, und jetzt…«
»Das behaupte ich nach wie vor!« erwiderte ich hitzig. »Hippokrates sagt, Krankheiten hätten natürliche Ursachen, und nichts geschehe ohne eine natürliche Ursache. Und dein großer Gott Äskulap war ganz einfach ein Mensch; Homer hat nicht so von ihm gesprochen, als sei er ein Gott. Und er mußte es eigentlich wissen. Äskulap war auch nicht göttlicher als… als Hadrians kleiner Freund Antinoos, der durch ein Dekret des römischen Senats zum Gott erhoben wurde!«
Nikias wurde rot und wollte aufspringen. Theogenes ergriff seinen Arm. »Beruhige dich doch«, sagte er. »Chariton ist aufgrund der ganzen Ereignisse einfach ein wenig außer sich. Du zahlst für den Wein, Chariton: Du weißt ja, es ist gegen die Regeln, über Religion zu sprechen.«
Jetzt wurde auch ich rot und schnippte einige Kupfermünzen auf die Tischplatte. »Es tut mir leid, Nikias«, sagte ich. »Ich bekenne mich schuldig. Du hängst deiner Vorstellung von Göttlichkeit an und ich der meinen.« Nikias nickte ziemlich gezwungen. Ich stand auf. »Ich muß nach Hause; ich muß noch einige Arzneimittel zubereiten«, erklärte ich den übrigen und machte mich daran, rauszugehen. Theogenes sprang ebenfalls auf. »Ich gehe mit, Chariton«, rief er. »Ich begleite dich noch bis zum Broucheionviertel.«
Unterwegs gestand er mir, daß er wegen Theophila an seinen Vater in Antiochia geschrieben hatte und nun sehnlichst auf Antwort wartete.
Theogenes erhielt den Brief seines Vaters im Mai; er zeigte ihn mir. Er drückte sich zurückhaltend aus, mißbilligte die Ehe, schloß seinen Brief jedoch mit den Sätzen: »Wenn du glaubst, du müßtest dieses Mädchen heiraten, dann mußt du es eben. Laß es mich wissen, und ich werde ihrem Vater in dieser Angelegenheit schreiben.«
Theogenes war voller stürmischer Begeisterung. Er zerrte mich mitten aus einer Vormittagsvorlesung heraus, um es mir zu erzählen. Zum Abendessen tauchte er bei Philon auf und brachte eine Halskette aus Bernstein als Geschenk für Theophila mit. Strahlend bat er darum, mit Philon sprechen zu dürfen. Sie zogen sich für kurze Zeit in das Schlafzimmer des Hausherrn zurück und kamen dann lächelnd wieder herunter. Philon rief die gesamte Familie in das Wohnzimmer, dann ergriff er Theophilas Hand und legte sie in diejenige von Theogenes.
»Meine Liebste«, sagte er zu ihr, »Theogenes hat mich um die Erlaubnis gefragt, dich heiraten zu dürfen, und ich habe mein Einverständnis zu dieser Verbindung gegeben.«
Theophila wurde feuerrot. Sie sah Philon strahlend an, dann blickte sie glühend vor Glück zu Theogenes auf. Auch er strahlte, dann küßte er sie. Natürlich dauerte es einige Zeit, die Einzelheiten der Verlobung vorzubereiten. Theogenes schrieb seinem Vater, und sein Vater schrieb ihm und Philon zurück. Philon setzte einen Vertrag auf, und Deborah (von Freude überwältigt, ihre Tochter so gut versorgt zu wissen) rackerte sich ab, die Brautausstattung zu weben und zu nähen. Doch schließlich wurde ein Termin festgesetzt: der Neumond vor dem Fastentag der Esther, eine günstige Zeit – frühes Frühjahr.
»Es ist noch so lange hin«, seufzte Theogenes. »Aber wenigstens weiß ich, daß ich auf etwas warten kann.« Und er machte sich wieder an das Studium der Heilkunst. »Schließlich«, meinte er, »werde ich bald eine Frau ernähren müssen!«
8
In jenem Frühjahr gab es immer noch keinen Aufruhr, noch nicht einmal zu Ostern, als der ägyptische Heerführer zur Kathedrale marschierte und die Hälfte seiner Truppen vor ihr Aufstellung nehmen ließ, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Auch ich gehörte zu den Besuchern jenes Gottesdienstes. Ich hatte damit angefangen, möglichst oft in die Kathedrale zu gehen, um zu hören, was Athanasios zu sagen hatte. Zum erstenmal verstand ich, warum die Mönche solche Angst hatten. Jene Truppen waren bewaffnet und gepanzert aufgezogen, um gegen die Ansammlung von Gläubigen vorzugehen, falls es irgendwelchen Ärger geben sollte. Auch früher schon waren anläßlich von Unruhen Menschen von ihnen getötet worden. Seit Athanasios den bischöflichen Thron bestiegen hatte, hatte es mehrmals Episoden von Gewalt gegeben. Als junger Mann war Athanasios gewiß ein Hitzkopf gewesen. Inzwischen war er zwar weit davon entfernt, doch die Behörden sahen immer noch einen Feind in ihm. An jenem Ostertag predigte er über den Frieden, und er sprach so eindringlich und leidenschaftlich auf die versammelten Gläubigen ein, daß diese drauf und dran waren, die wartenden Soldaten – die nicht wußten, was sie davon halten sollten – zu umarmen, als sie aus der Kathedrale kamen. Er predigte eine Menge über den Frieden, aber auch über den Kampf, über die Notwendigkeit, Mut und Entschlossenheit zu zeigen; man spürte deutlich, daß er ebenfalls Unruhen erwartete.
Ich kaufte auch die theologische Abhandlung des Erzbischofs Über die Menschwerdung des Wortes und las darin, wenn ich nicht allzuviel zu tun hatte. Die meiste Zeit hatte ich zu tun, deshalb kam ich nur langsam voran. »Das Leben ist kurz, und die Kunst des Heilens ist lang« – ich glaube, daß dieser Aphorismus des Hippokrates in Wirklichkeit auf die lange Zeit anspielt, die eine Arznei unter Umständen benötigt, um eine Wirkung zu erzielen, aber er schien mir ebensogut zu der langen Zeit zu passen, die man braucht, um etwas zu lernen. Ein Arzt muß die Symptome all der verschiedenen Krankheiten kennen, und er muß wissen, wann er die einzelnen Heilmittel anwenden kann; er muß etwas über das Wasser und über die verschiedenen Wetterlagen wissen, die diese oder jene Krankheit mit sich bringen können, und wie man trotzdem am besten die öffentliche Gesundheit aufrechterhalten kann; er muß etwas von Anatomie, und Chirurgie verstehen; er muß in der Lage sein, die verschiedenen medizinischen Kräuter zu identifizieren und Heilsäfte aus ihnen zuzubereiten, aber auch die richtige Dosis zu berechnen. Je mehr ich lernte, desto unwissender kam ich mir selbst vor, und schließlich wurde mir klar, daß auch die gelehrtesten Ärzte noch unwissend sind und sich untereinander nicht nur über die verschiedenen Theorien in die Haare kriegen, sondern auch über grundlegende Dinge uneins sind, über die es eigentlich leicht sein sollte, sich ein Urteil zu bilden: zum Beispiel über die Funktion der Leber oder wann es geboten ist, Kranke zur Ader zu lassen oder ihnen Nieswurz zu verabreichen. Und wie oft ist jegliche Kunst nutzlos, und der Arzt könnte seine Bücher und Arzneimittel ebensogut in den Abwasserkanal werfen! »Können wir denn gar nichts tun?« fragte ich Philon eines Nachts im August, nachdem uns eine Patientin gestorben war und wir erschöpft nach Hause kamen.