»Wir sind kaum besser als diese Quacksalber, die die Kranken mit Hilfe irgendwelcher Zauber und Beschwörungen zu heilen versuchen!«
»Nun, wir versuchen wenigstens, niemandem zu schaden, wenn wir ihm schon nicht nützen können«, entgegnete Philon.
»Und wir versuchen, der Natur zu folgen und sie zu unterstützen. Und manchmal haben wir Erfolg. Aber es stimmt, es ist bisweilen schwer zu sagen, ob ein Patient aufgrund unserer Bemühungen überlebt hat oder ob er sowieso überlebt hätte. Obwohl mehr Menschen ohne Arzt sterben als mit Arzt, was man von Zauber und Beschwörungen nicht sagen kann.«
Ich versuchte zu lächeln, aber ich war zu niedergeschlagen. Die Patientin war eine junge Frau mit Darmfieber und einer Blaseninfektion gewesen. Sie war etwa in meinem Alter gewesen. Sie war offensichtlich robust, herzlich geliebt von ihrem Mann und ihrer Familie, hatte einen eben geborenen Säugling, der nach ihr verlangte. Und doch hatte sie gelitten und war gestorben. »Wir wissen gar nichts«, meinte ich bitter.
»Nein«, widersprach Philon. »Wir wissen wenig. Es ist ein großer Unterschied, ob man nichts oder ein wenig weiß. Wenn man ein wenig weiß, dann braucht man wenigstens keine wilden Vermutungen anzustellen und magische Mächte anzurufen. Wir befinden uns nach wie vor in der Hand Gottes, aber wir wissen etwas über unsere Grenzen.«
»Heute abend habe ich den Eindruck, die Wände meines Hauses sollten meine Grenzen bilden. Was nützt es denn, die Heilkunst zu studieren, wenn man trotz des ganzen Studiums niemandem helfen kann?«
»Wir können helfen. Wir können nur keine Heilung versprechen.« Philon seufzte und wechselte das Thema. »Wann willst du deine Prüfung ablegen, Chariton? Oder bist du nicht daran interessiert?«
Das riß mich aus meiner gedrückten Stimmung. »Was willst du damit sagen? Ich habe gerade erst angefangen, die Heilkunst zu studieren.«
»Es ist jetzt, warte mal, fast zweieinhalb Jahre her, daß du dich mir angeschlossen hast. Es ist richtig, das ist nicht lange. Aber du hast dich darauf gestürzt wie ein ausgehungerter Landarbeiter auf einen Festschmaus, und du hast ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Du könntest dein Examen schon morgen bestehen. Schau nicht so beunruhigt: Niemand erwartet von dir, daß du in der Prüfung jemanden heilst. Du stehst lediglich einem Ausschuß gegenüber, der dir Fragen über die medizinischen Schriftsteller sowie über verschiedene Behandlungsmethoden und Krankheiten stellt. Du weißt jetzt alles, worauf man sich in der Heilkunst einigen kann, und sie können dich nicht in umstrittenen Theorien oder praktischen Erfahrungen prüfen. Sie können dir da oben im Tempel nicht mehr viel beibringen. Du bist bereits berüchtigt dafür, Schwachpunkte in den Theorien anderer zu entdecken, und neulich erzählte mir Adamantios, wenn du so weitermachtest, würden bald alle denken, daß niemand etwas weiß, und das wäre nun wirklich eine schöne Verschwendung von Gelehrsamkeit. Obwohl er es gerne sähe, wenn du in Alexandria bleibst: Er sagt, deine Gesellschaft sei sehr anregend.« Ich lachte. Wenn ein Alexandriner sagt, die Gesellschaft von jemandem sei »anregend«, dann bedeutet dies, daß er die ganze Zeit über mit ihm streitet. Philon lächelte und verstand meinen Ausbruch von Heiterkeit, fuhr jedoch ernsthaft fort. »Du solltest ihnen keine weiteren Gebühren zahlen – oder, da wir gerade davon sprechen, mir noch irgendwelche Gebühren zahlen.« Wir machten wieder einige Schritte, dann fügte er leise hinzu: »Obwohl es mir sehr leid tun würde, dich zu verlieren.«
»Ohne dich würde ich mir ganz verloren vorkommen«, entgegnete ich. »Ich habe keinerlei Erfahrung. Ich hätte Angst davor, irgend etwas zu tun, wenn ich mich vorher nicht mit dir darüber beraten könnte. Ich könnte jemanden umbringen.«
Philon lachte. »Das stimmt nicht. Du hast schon ein paar Leute auf eigenes Risiko behandelt. Und jeder Arzt kann jemanden umbringen, wenn er eine falsche Dosis berechnet. Obwohl…« er hielt erneut inne, dann blieb er mitten auf der Straße stehen, sah mich an und zog an seiner Unterlippe. Schließlich zuckte er die Achseln. »Nun gut, ich überlasse es dir: Du sollst selbst entscheiden, ob du fortgehst. Vielleicht solltest du tatsächlich fortgehen. Du bist sehr begabt und hast wahrscheinlich eine glänzende Karriere vor dir. Und ich möchte dich nicht zurückhalten. Aber wenn du wenigstens für ein paar weitere Jahre bei mir bleiben möchtest, und zwar als Partner, dann würde ich mich sehr darüber freuen.«
Ich war von Philons Angebot verwirrt und überwältigt. »Du solltest nicht solche Dinge sagen«, meinte ich schließlich. »Du bist ein geschickter und erfahrener Arzt, einer der besten in Alexandria, und ich bin ein unwissender Student, der dir gegenüber niemals vollkommen ehrlich gewesen ist. Ich habe nicht die Absicht, mich der Prüfung zu unterziehen, ehe ich nicht ein bißchen mehr über die Heilkunst weiß.«
»Ich möchte dich nicht enttäuschen«, sagte Philon lächelnd, »aber außer praktischer Erfahrung bleibt nicht mehr viel übrig, was man dir beibringen könnte.« Er ging weiter. »Denk einmal nach über mein Angebot.«
Als wir zu Hause ankamen, fanden wir Deborah und die Sklaven in heller Aufregung vor. Theophila lugte von der Treppe aus nach unten: Dort saß ein Fremder und klopfte mit seinen Fingern ungeduldig auf die Tischplatte; diese Geste lenkte die Aufmerksamkeit als erstes auf seine amtlich aussehenden Siegelringe. Er machte einen etwas jüngeren Eindruck als Philon, war glattrasiert und dunkelhaarig. Er war elegant gekleidet, trug eine gelbe Tunika mit einem schönen orangefarbenen Umhang darüber. Als wir hereinkamen, sprang er auf.
»Chariton aus Ephesus?« fragte er und sah mich an. Er sprach einen gebildeten alexandrinischen Akzent, in seinem sorgfältig modulierten Tonfall schlug jedoch ganz leicht der singende Rhythmus der Ägypter durch.
»Ja«, erwiderte ich, und meine Stimme klang zweifellos nervös. Ich konnte mir keinen Reim auf diesen plötzlichen Überfall eines Beamten machen, es sei denn, Festinus war mir auf die Spur gekommen. »Worum geht es?«
»Ich bin Theophilos, ein Dekan der alexandrinischen Kirche. Unser Vater, der fromme Athanasios, wünscht dich auf der Stelle zu sehen«, antwortete der Fremde. »Komm bitte mit mir. Und beeil dich.«