»Du kennst auch meinen Vorgänger Eutropios«, sagte der Fremde. Eutropios war der Statthalter des letzten Jahres, dann mußte dieser Mann also der gegenwärtige sein. Der Soldat hatte es wörtlich gemeint, als er von ihm als dem »Statthalter« gesprochen hatte. Wie hieß er noch? Festinus, erinnerte ich mich. Ein lateinischer Römer aus dem Westreich, aus der unvorstellbar fernen Provinz Gallien. Es hatte beträchtlichen Klatsch über ihn gegeben: »Ein absoluter Niemand«, hatte Maia verächtlich zu Ischyras gesagt. »Was sein Herkommen anbetrifft, kaum vornehmer als ich. Aber er hatte das Glück, mit mächtigen Freunden zur Schule zu gehen, und jetzt ist er aus dem Westreich hierher gekommen, diese Geißel.«
Mein Vater sprang auf. »Ja! Ja! Aber wie sollte ich denn den Statthalter Asiens nicht kennen? Wenn er doch hier in Ephesus residiert? Ich hoffe, Eutropios…«
»Er steht im Verdacht«, unterbrach ihn Festinus. Es schien ihm zu mißfallen, daß es bisher nur ein Verdacht war. »Doch Euserios steckte bis zum Hals mitten drin.« Er stand auf und goß sich selbst ein wenig Wein nach. »Er ist ausgezeichnet«, sagte er und nippte an dem süßen Getränk. Dann nahm er seinen Sitz wieder ein. »Zu deinen Weinbergen muß man dir gratulieren.«
Mein Vater blickte ihn verängstigt an. Festinus lächelte. Maia fächelte meinem Vater noch einmal Luft zu, ohne den Statthalter zu beachten, und Festinus deutete mit einem Kopfnicken auf sie. »Wer ist diese Sklavin? Wann ist sie hier hereingekommen?«
Mein Vater nahm einen Schluck von dem Wein, den Maia ihm gereicht hatte. »Sie ist die Amme meiner Kinder«, sagte er. »Meiner Tochter Charis und meines Sohnes Theodoros.« Er deutete mit einer kraftlosen Handbewegung auf uns. Festinus blickte uns beide nachdenklich an und lächelte. Seine weißen Zähne leuchteten in dem geröteten Gesicht.
»Vortrefflicher«, sagte Thorion kühn. »Mein Vater ist kein Verräter.«
»Das hoffe ich«, entgegnete Festinus. »Sind die Sklavin und die junge Dame zwischendurch einmal rausgegangen?«
»Nein, Vortrefflicher«, sagte Maia, beugte ihren Kopf und sah Festinus immer noch nicht an. Ihr Tonfall war äußerst respektvoll, doch die Stimme schien kaum zu ihr zu gehören.
»Wir sind gerade hereingekommen, niemand ist zwischendurch draußen gewesen. Ich glaube, deine Leibwächter würden auch keinen durchlassen, falls es jemand versuchen sollte.«
Der Statthalter nickte. »Gut. Dann konnte also niemand Anweisung geben, etwas zu verstecken.« Er nickte noch einmal und befahl einem der Beamten: »Sag ihnen, sie sollen jetzt damit anfangen, das Haus zu durchsuchen.« Er sah meinen Vater erneut an. »Gib ihm sämtliche Schlüssel.«
»Johannes«, sagte mein Vater mit gebrochener Stimme zu seinem Hausverwalter. »Du hast die Schlüssel. Gehe mit diesem edlen Mann mit und tu, was er sagt.«
»Auch deine privaten Schlüssel«, beharrte Festinus.
Mein Vater starrte ihn unglücklich an, dann nahm er sehr langsam den Riemen von seiner Tunika, an dem die Schlüssel zu seiner Schatztruhe und dem Schreibpult hingen. Er blickte sie einen Augenblick lang starr an. Der Hausverwalter Johannes trat zu ihm und streckte seine Hand nach ihnen aus, wobei er ebenso blaß aussah wie mein Vater selbst. Vater ließ die Schlüssel in die ausgestreckte Hand seines Verwalters fallen, und Johannes ging zu dem Beamten, auf den der Statthalter gezeigt hatte.
Der Beamte verneigte sich vor Vater und Festinus, nickte einigen der Soldaten zu und ging in den Hof hinaus. Mit den Leuten draußen machte er sich daran, das gesamte Haus nach Beweisen für einen Verrat zu durchstöbern. Mir wurde klar, daß sie anschließend auch die Sklaven foltern würden. Und dann, falls irgendein Beweis auftauchen oder falls irgendeiner aus dem Haushalt auf der Folterbank etwas sagen sollte, sei es nun wahr oder nicht, würden sie meinen Vater foltern und ihn hinrichten, falls er etwas gestand – und er würde unter der Folter alles gestehen. Zuletzt würden sie sein Vermögen einziehen. Ich spürte, wie ich zu zittern begann. Ich zog das eine Ende meines Umhangs über das Gesicht und kaute an ihm. Thorion kam zu mir und legte mir seinen Arm um die Schultern. Er flüsterte mir etwas ins Ohr, als tröste er mich. Doch in Wirklichkeit fragte er mich: »Was hast du mit dem Vogel gemacht?«
Diese Frage ließ die Panik in mir verebben. Wenn die Männer den verstümmelten Körper eines kleinen Vogels in Thorions Zimmer fanden, würde mein Bruder unweigerlich der Schwarzen Magie angeklagt, und Schwarze Magie und Verrat paßten wie Salz und Weinessig zusammen. Ich berührte mit der Hand die lederne Kosmetiktasche an meinem Gürtel, und Thorion gab einen schwachen Seufzer der Erleichterung von sich. »Das ist alles Quatsch«, sagte er jetzt ein bißchen lauter, ohne sich darum zu kümmern, ob Festinus es hörte. »Sie werden nichts finden und wieder weggehen. Man kann einen Mann nicht des Verrates für schuldig befinden, nur weil er vor zwei Jahren mit einem der Verräter auf gesellschaftlicher Ebene verkehrt hat.«
Festinus hörte es. Er sah uns an und lächelte erneut. »So, so, aber da gibt es noch mehr«, meinte er. Er schien die Situation zu genießen. Er nahm noch einen Schluck Wein. In meinen Vater schien wieder etwas Leben zu kommen, und er sah den Statthalter an. »Ich habe dir schon gesagt, daß der Grund für diese ganze Geschichte dein Name Theodoros ist«, fuhr Festinus fort und wandte sich wieder Vater zu. »Die Verschwörung, die der Himmel in seiner Gnade aufgedeckt hat, zielte darauf ab, einen Theodoros zum Kaiser zu machen.«
»Davon weiß ich nichts«, sagte Vater.
»Die Verschwörer haben dabei auch nicht an dich gedacht«, gab Festinus zu. »Sie wollten den Purpur Theodoros dem Notar geben. Aber es könnte ja immerhin auch ein anderer Theodoros gemeint gewesen sein. Das Orakel war nicht eindeutig.«
Alle starrten ihn an, und er nahm erneut einen Schluck Wein. Er genoß die Situation wirklich. Ich hatte damals keine Ahnung, wer Theodoros der Notar war: Später erfuhr ich, daß er ein reicher und sehr viel vornehmerer Edelmann war als mein Vater. Doch was die allgemeine Aufmerksamkeit so erregte, das war die Erwähnung eines Orakels. All die von früher her berühmten Orakel waren stumm. Entweder weil sie, wie die Kirche behauptete, durch das Erscheinen von Christus ihrer Macht beraubt waren, oder, wie die Heiden meinten, weil die Christen sich eingemischt hatten: die Ohnmacht der Priesterschaft sei Schuld an ihrer Unzuverlässigkeit.
»Vor ein paar Monaten«, erzählte Festinus in einem beiläufigen Tonfall, »wurden zwei Giftmischer und Magier, Palladios und Heliodoros, wegen einer unerheblichen Sache vor Gericht gestellt. Um der Folter zu entgehen, versprachen sie, das Gericht über eine weit ernstere Angelegenheit zu informieren, von der sie – von Berufs wegen – Kenntnis erhalten hatten. Es hat den Anschein, als hätten Fidustius, Pergamios und Irenaios, alles Männer vom kaiserlichen Hof und edle Leute von großer Vornehmheit« – er bedachte meinen Vater mit einem ironischen Blick –, »durch geheime und verabscheuenswürdige Künste den Namen des Mannes in Erfahrung gebracht, der unserem erlauchten und geliebten Gebieter Valens nachfolgen wird.«
Und wieder beobachtete Festinus uns alle mit seinen kühlen blauen Augen. Ich hörte auf, an meinem Umhang herumzukauen, und starrte ihn meinerseits an, wobei ich dem Himmel und meinem Glück dankte, daß ich den Kadaver des Vogels immer noch bei mir trug. Es war unwahrscheinlich, daß sie mich selbst durchsuchen würden: Er müßte eigentlich sicher sein bei mir. Aber falls jetzt auch nur das geringste Anzeichen von Magie zu Tage träte, würden wir allesamt stranguliert werden.
»Fidustius befand sich zufällig gerade am Hof in Antiochia, als diese Sache passierte«, fuhr Festinus fort. »Er wurde gefoltert und enthüllte alles, was er wußte. Mit Hilfe jener beiden Magier von edler Abstammung« – wieder dieses ironische Lächeln, diesmal galt es Thorion und mir – »hatten die Verschwörer ein Orakel errichtet, das den alten Orakeln ähnelte. Sie konstruierten einen goldenen Dreifuß nach dem Vorbild des Dreifußes von Delphi und stellten ihn auf eine runde Platte, die aus verschiedenen Metallen bestand und an deren Rand die Buchstaben des Alphabets eingraviert waren. Nach allen möglichen heidnischen und gottlosen Riten befestigten sie daraufhin mit Hilfe eines Fadens von feinem Leinen einen Ring an dem Dreifuß und versetzten diesen Ring in Schwingungen. Er kam über dem einen oder anderen Buchstaben zur Ruhe. Die Verschwörer schrieben sie nieder, und auf diese Weise beantwortete das Orakel ihre Fragen. Und zwar antwortete es in einem Versmaß, in delphischen Hexametern, so wie die Orakel der Alten. Es sagte, der nächste Kaiser würde ein in jeder Beziehung vollkommener Mann sein«, Festinus lächelte meinen Vater an, dann wandte er den Blick mit einem Achselzucken von ihm ab. »Und sein Name laute… das Orakel buchstabierte: THEOD – woraufhin einer der Verschwörer ausrief: ›Theodoros der Notar!‹ Ihn hatten diese verworfenen Männer bereits als den besten Kandidaten für den Purpur ausersehen. So befragten sie das Orakel also nicht weiter nach dem nächsten Kaiser, sondern stellten statt dessen Fragen bezüglich ihres eigenen Schicksals. Und es prophezeite wahrheitsgemäß, daß sie wegen dieses Versuchs, sich Einblick in die Mysterien des Schicksals zu verschaffen, allesamt auf höchst elende Weise zugrunde gehen würden.«