Doch ich fand nicht die Kraft dazu. Ich wollte ihn unbedingt wiedersehen. Ich versuchte, mir diese Leidenschaft auszureden. Warum sollte ich Athanaric denn eigentlich lieben? Sicherlich, er war von vornehmer Geburt, er war intelligent, und er sah auf dem Rücken eines Pferdes phantastisch aus, aber war das wirklich etwas so Ungewöhnliches? Sebastianus zum Beispiel sah besser aus und war gebildeter, doch obwohl ich ihn anziehend fand, brachte er mich doch keineswegs um den Schlaf. Warum sollte das bei Athanaric anders sein?
Es klappte nicht; ich entdeckte nur immer neue Gründe für meine Liebe zu Athanaric – die Art, in der er mich zum Lachen brachte; die Art, in der er noch hochmütiger herumstolzierte, sobald er merkte, daß man ihn nicht mochte, die Art, in der er seinen Daumen unter seinen Schwertgürtel steckte und einfach nur lachend dastand, während die Sonne in seinen Haaren spielte. Und jenseits dieser Äußerlichkeiten noch etwas Tiefergehendes. Eine Leidenschaft, die so heftig war wie die meine, mußte wohl tiefere Wurzeln haben. Geburt und Erziehung, Stellung und Verantwortung machten nicht – wie bei den meisten von uns – sein ganzes Wesen aus. Ich spürte, daß er die Regeln, nach denen er lebte, selbst gewählt hatte und daß er gut gewählt hatte: Er war frei; rund um ihn herum mochte die Welt in Scherben fallen, er würde unberührt davon bleiben und durch das Chaos davon galoppieren, immer noch unzweifelhaft und unerklärbar er selbst. Und ich verwünschte mich dafür, dauernd alles ergründen zu wollen, und hörte damit auf. Aber ich brachte es nicht über mich, ihm aus dem Wege zu gehen.
Ich drängte ihn sogar dazu, mein Gast zu sein, wann immer er in der Festung weilte, und erklärte ihm, genau wie Sebastianus es mir gegenüber getan hatte, daß mir die Gesellschaft gebildeter Menschen fehlte und daß ich sehr auf Neuigkeiten erpicht sei. Und für gewöhnlich nahm er meine Einladungen an. Da er jetzt viel in der Gegend war, sah ich ihn ziemlich häufig. Ich wußte, daß er mich recht gut leiden konnte. Ungeachtet aller Scherze, die er darüber machte, respektierte er meine Fähigkeiten, und er respektierte das, was er meine Ehrlichkeit nannte. Er schien sich in meiner Gesellschaft wohl zu fühlen. Natürlich mußte ich äußerst vorsichtig sein, um ihm meine wahren Gefühle zu verheimlichen. Ich wußte, daß ich ihn nie wieder sehen würde, falls er etwas von ihnen bemerkte. Er gehörte nicht zu denen, die Knaben oder Eunuchen mögen; sonst hätte ich mich auch nicht in ihn verliebt. Und so sagte ich einfach:
»Komm doch zum Abendbrot, wenn du das nächste Mal über den Fluß willst und ein bißchen Zeit hast!« Und er kam und traf mich für gewöhnlich noch im Hospital an. Ich schützte vor, die Einladung vergessen zu haben, bat ihn um Entschuldigung, wusch mich und nahm ihn mit zu mir nach Hause. Während des Abendbrots erzählte er mir die Neuigkeiten aus dem großen Römischen Reich, und ich ließ mindestens einen Vortrag über Hippokrates vom Stapel. Und dann ritt er wieder davon, entweder über den Fluß oder in das Präsidium, und ich nahm ein kaltes Bad, kaute auf meinen Fingernägeln und heulte beinahe vor Enttäuschung. Mein einziger Trost – ein ziemlich verzweifelter Trost! – bestand in der Hoffnung, daß eine derart heftige Leidenschaft mit der Zeit abklingen und versiegen mußte und vielleicht zu einer normalen Freundschaft werden konnte.
Die vielen Neuigkeiten jenes Jahres machten die Sache ein wenig leichter, da wir eine Menge hatten, worüber wir reden konnten. Im Spätherbst starb der Kaiser des Westreichs, der Augustus Valentinian. Der Tod ereilte ihn in Brigetio, in der Diözese Illyrien, wo er einen Feldzug gegen die Barbaren vom Stamme der Quaden vorbereitet hatte. Er hatte fast zwölf Jahre lang über die Welt geherrscht, und er hatte einige Vorrechte gegenüber seinem jüngeren Bruder, den er selbst ernannt hatte, behauptet. Die Nachricht erschütterte die Armee wie ein Erdbeben. (Es hatte den Anschein, daß er am Schlagfluß gestorben war: Er war über die Unverschämtheit eines Gesandten der Quaden ganz außer sich geraten, und es war wohl kein Arzt in der Nähe gewesen, der ihn sofort hätte behandeln können; ich mußte die Besonderheiten des Schlagflusses mit jedermann in Novidunum lang und breit erörtern.) Er hatte seinen Sohn Gratianus schon lange vorher zum Mitregenten ernannt, doch dieser junge Mann war erst achtzehn, und als sein Vater starb, war er weit weg in Gallien. Man befürchtete, einer der illyrischen Generäle könne den Purpur auf der Stelle für sich beanspruchen. Derjenige, dem das besondere Mißtrauen galt, war zufällig Sebastianus’ Vater, der bei seinen Truppen äußerst populäre Heerführer von Illyrien. Der Oberbefehlshaber der Leibgarde, Merobaudes, hielt die Nachricht vom Tode des Kaisers so lange wie möglich geheim und schickte den älteren Sebastianus unter einem Vorwand in das Hunderte von Meilen entfernte Mursa. Dann ließ er den zweiten Sohn des Kaisers holen und rief ihn auf der Stelle zum Augustus aus, um die Erbfolge des Hauses von Valentinian zu sichern. Dieser Sohn war ein kleiner vierjähriger Junge, der zufällig ganz in der Nähe bei seiner Mutter gelebt hatte. Sebastianus war ziemlich wütend.
»Mein Vater ist ein treuer und aufrichtiger Mann, und Merobaudes hätte ihn ebensogut gleich des Verrats bezichtigen können!« sagte er eines Abends zu Athanaric und mir. Sie waren beide auf Stippvisite in Novidunum, Athanaric auf seinem Weg über den Fluß und Sebastianus während einer Truppeninspektion. Sebastianus hatte uns zum Abendessen eingeladen. Er lud mich meistens ein, wenn er im Lager war, und auch Athanaric war jedesmal, wenn sie sich trafen, sein Gast: Er liebte Gesellschaft.
»Es sind schon andere Leute gegen ihren Willen zum Kaiser ausgerufen worden«, meinte Athanaric besänftigend. »Die Soldaten ziehen einen Kaiser vor, der aus ihrer Mitte stammt, das weiß doch jeder! Und was hätte dein Vater dagegen tun können, wenn sie ihm zugejubelt hätten? Er hätte den Augustus Gratianus nicht davon überzeugen können, daß er es gar nicht geplant hatte.
Er hätte gar nicht anders können, als an dem Titel festzuhalten, nur um am Leben zu bleiben – und nach einem kostspieligen Bürgerkrieg hätte er sein Leben wahrscheinlich sowieso verloren.«