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»Barmherziger Christ«, sagte ich und warf dem Mädchen einen prüfenden Blick zu, um mich zu vergewissern, ob es scherzte oder nicht. Ein menschliches Wesen im Austausch gegen einen Hund?

Raedagunda starrte das Mädchen ebenfalls mit großen Augen an. »Meine Eltern haben mich für einen jungen Ochsen und eine Goldmünze verkauft«, erzählte sie.

»Das war, bevor die Leute den Fluß überquerten«, meinte Gudrun zutraulich.

»Fang noch einmal von vorne an«, forderte ich sie auf. »Du bist aus dem Norden, nicht wahr? Ihr seid vor den Hunnen geflohen?«

Sie nickte. »Die Hunnen kamen und brannten unser Haus nieder«, erzählte sie leise, dann sah sie mich mit einem eigenartigen Blick an. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. »Sie brachten meinen Vater um. Bevor die Hunnen kamen, versteckte sich meine Mutter mit mir und meinem kleinen Bruder im Wald. Die Hunnen suchten uns eine Weile, doch dann ritten sie weiter. Wir gingen in Richtung Süden. Wir hatten gehört, der edle Frithigern habe mit dem römischen König vereinbart, daß wir den Fluß überqueren dürften und uns dort Land suchen könnten, wo keine Hunnen sind. Wir gingen lange Zeit nach Süden. Mutter verkaufte ihre Armreifen und besorgte uns etwas zu essen, und ich pflückte Beeren. Dann kamen wir an den Fluß, und es wurde besser. Mutter fand einen anderen Vater für uns – seine Frau war von den Hunnen verschleppt worden. Der edle Frithigern gab uns etwas Weizen, um Brot daraus zu backen. Ich pflückte Eicheln und Schilfrohr und Mädesüß. Und ich versuchte, Fische zu fangen; mein Bruder und ich fingen einen Haufen Frösche – wir hatten jede Menge zu essen. Dann verkündete der edle Frithigern, wir könnten den Fluß überqueren. Er ließ Wagen bringen, auf denen die kleinen Kinder, die Kranken und all unsere Habe verstaut wurde. Zusammen mit vielen anderen Leuten marschierten wir viele Tage am Ufer entlang, bis wir zu dem Platz kamen, wo die Schiffe lagen. Wir waren sehr glücklich, als wir da waren. Wir bestiegen ein kleines Boot und gelangten damit über den Fluß ins römische Land. Aber als wir dort waren, gab es nichts zu essen. Mein neuer Vater wollte sich auf die Suche nach etwas Eßbarem machen, aber die Römer hinderten ihn daran. Sie hatten sehr viele Soldaten dort versammelt und erlaubten niemandem, weiterzuziehen; sie sagten, wir müßten darauf warten, daß uns Land zugeteilt würde. Wir warteten, aber wir hatten nichts zu essen. Ich konnte nicht einmal Frösche oder Beeren finden; die Leute, die den Fluß vor uns überquert hatten, hatten schon alles aufgegessen. Die Römer hatten haufenweise Lebensmittel, aber sie wollten Geld dafür, eine Menge Geld. Mutter verkaufte ihren Umhang und ihre Ohrringe. Mein neuer Vater hatte ein Panzerhemd, das er verkaufte – sein Schwert hatten ihm die Römer fortgenommen, als wir über den Fluß setzten. Ein wenig später wollte ich wieder zurück, auf das andere Flußufer. Aber auch das ließen die Römer nicht zu. Mutter verkaufte meine Halskette und meinen Umhang und alle unsere Schuhe. Dann sagte sie, wir würden allesamt Hungers sterben, falls sie uns nicht an die Römer verkaufen könnte. Die würden uns bestimmt etwas zu essen geben. Deshalb verkaufte sie zuerst mich, aber alles, was die Römer für mich gaben, war ein Hund. Als sie protestierte, lachten sie sie aus. Sie übergaben mich dem Mann, von dem du mich gekauft hast, Herr, und der legte mich in Ketten und brachte mich auf das Schiff. Ich sagte ihm, er brauche mich nicht anzuketten. Aber er tat es trotzdem. Als ich versuchte, mich loszumachen, schlug er mich. Alaric befand sich bereits auf dem Schiff, als ich dort ankam. Er lag auf dem Boden und weinte. Ich hatte ihn schon vorher im Lager gesehen und versuchte, ihn zu trösten. Er ähnelte meinem kleinen Bruder. Danke, daß du uns beide gekauft hast.«

Ich sagte nichts. Ich empfand meine fünf Solidi plötzlich als Blutgeld, das mich schuldhaft an die Menschen kettete, die Hunde im Austausch für menschliche Lebewesen geboten hatten. Menschen in allergrößter Not haben ihre Kinder schon seit eh und je verkauft, doch meistens wird diese Not von gewissenlosen Leuten künstlich erzeugt, nur damit sie billig zu Sklaven kommen. Das Land hätte bereits aufgeteilt werden müssen, bevor die Goten überhaupt die Donau überquerten. Ich war sicher, daß Athanaric bestimmte Landstriche Thraziens erwähnt hatte, die für die Ansiedlung der Terwingen vorgesehen waren. Ich versuchte, mir die Lager am Donauufer in Mösien vorzustellen: Sie waren vermutlich schlimmer als diejenigen, die ich im Frühjahr gesehen hatte. Menschen, die in einigen wenigen Wagen und behelfsmäßigen Unterkünften aus Zweigen und Blattwerk mit ein paar Fellen darüber zusammengepfercht waren. Menschen, die sich von Wurzeln und Eicheln ernährten und von dem wenigen, was sie sich sonst noch zu erpresserischen Bedingungen von den wohlversorgten römischen Soldaten kaufen konnten. Menschen, die zuhauf und ohne daß man etwas dagegen tun konnte, an Krankheiten starben – an Ruhr, Typhus, Wassersucht. Menschen ohne richtiges Trinkwasser, ohne genügend Platz; Kinder, die vor Hunger schrien; die Toten wurden zwischen den Lebenden begraben oder auch in den Fluß geworfen. Und die Römer nahmen ihnen ihren Schmuck, ihre Kettenhemden und ihre Kleidung weg – und ihre Kinder.

»Wer waren die Römer, die so etwas taten?« fragte ich schließlich. »Hast du irgendwelche Namen gehört?«

Gudrun nickte und sah mich mit großen Augen an. »Die Befehlshaber der Soldaten hießen Lupicinus und Maximus. Und dann gab es noch einen Führer mit Namen Festinus. Er hatte keine Soldaten, sollte aber eigentlich etwas zu essen schicken – das sagte jedenfalls mein neuer Vater.«

Festinus! Ja, Thorion hatte erzählt, daß er der neue Statthalter von Mösien war. Er wäre zu solchen Dingen fähig. Und ich erinnerte mich daran, was Sebastianus von der Habgier seines ihm vorgesetzten Heerführers erzählt hatte. Von Maximus, dem Heerführer Mösiens, wußte ich nichts, aber er mußte von ähnlichem Schlag sein, sonst wäre Lupicinus nicht in der Lage gewesen, den Menschen solches Leid zuzufügen.

Ich war entsetzt über den Bericht des Mädchens. Ja, mehr noch, er verursachte mir sogar Angst. Ich glaubte nicht, daß sich Frithigern diese Behandlung noch lange gefallen lassen würde. Wahrscheinlich schmiedete er bereits Pläne, um sein Volk zum Widerstand aufzurufen. Als sie den Fluß überquerten, hatten sie ihre Waffen abliefern müssen, aber vermutlich hatten sich nicht alle daran gehalten. Sie würden zwar schwächer sein, als die ihnen gegenüberstehenden römischen Truppen, doch sie waren nach wie vor gefährlich. Oder waren sie vielleicht sogar stärker? Wie viele von ihnen hatten die Donau überquert? Ich wußte von Athanaric, daß es Tausende von Terwingen gab.

Jemand mußte dem ein Ende bereiten. Die Behörden in Mösien handelten offensichtlich in heimlichem Einverständnis miteinander, aber Sebastianus und Thorion müßten in der Lage sein, etwas dagegen zu unternehmen. Und Athanaric? Keinen Augenblick lang glaubte ich, er könne an diesem korrupten Plan beteiligt sein, aber zumindest würde er bereits davon wissen. Ich hatte ihn seit der Gerichtsverhandlung nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich hatte er herausgefunden, wie den Goten von den römischen Befehlshabern mitgespielt wurde, und war schnurstracks an den Hof in Antiochia geritten, um dort Bericht zu erstatten. Vielleicht waren bereits Befehle vom Hof unterwegs, um den schändlichen Praktiken von Festinus und Lupicinus ein Ende zu bereiten.

Aber Korruption ist Bestandteil des römischen Lebens, und es konnte schwierig sein, jemanden am Hof dazu zu bewegen, Notiz von ihr zu nehmen. Und ich wußte ja, daß Festinus mächtige Freunde besaß. Es würde schwer sein, diese Machenschaften zu beenden. Im Grunde genommen konnte ich genausogut wie jeder andere etwas dagegen unternehmen. Ich war ein Freund des Heerführers und die Schwester des Statthalters von Skythien. Ich würde mit allen beiden sprechen müssen.