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Zum ersten Mal in seinem Leben gab es etwas, auf das Thrall sich freuen konnte. Das erweckte einen Hunger in ihm, den er vorher nicht gekannt hatte. Er hatte sich immer so stark darauf konzentriert, den Prügeln zu entgehen und Lob einzuheimsen, dass er nie darüber nachdachte, was Freiheit wirklich bedeutete. Ohne Ketten durch das Sonnenlicht zu streifen, unter Sternen zu schlafen … In seinem ganzen Leben war er noch nie nachts draußen gewesen. Wie würde das wohl sein?

Seine Phantasie, durch Bücher und Taris Briefe gestärkt, konnte jetzt endlich abheben. Er lag schlaflos auf seinem Strohbett und fragte sich, wie es wohl sein würde, jemanden aus seinem eigenen Volk zu treffen. Er hatte natürlich all die Berichte gelesen, die Menschen über die »schrecklichen grünen Ungeheuer aus den tiefsten Dämonenhöhlen« sammelten. Und er erinnerte sich an den verstörenden Zwischenfall, als der gefangene Ork sich befreit und Thrall angegriffen hatte. Wenn er nur verstanden hätte, was der Ork ihm zugerufen hatte. Sein Orkisch hatte nicht dafür gereicht – bei weitem nicht.

Eines Tages würde er herausfinden, was der Ork ihm hatte sagen wollen. Und er würde sein Volk finden. Thrall war unter Menschen aufgewachsen, aber diese hatten nur selten versucht, seine Loyalität und Zuneigung zu gewinnen. Er war Sergeant und Tari dankbar, dass sie ihm Konzepte wie Ehre und Freundlichkeit vermittelt hatten. Durch ihre Lehren hatte Thrall gelernt, Blackmoore besser zu verstehen und erkannt, dass der Leutnant keine dieser Charakterzüge besaß. Und so lange Thrall ihm gehörte, würde er auch in seinem eigenen Ork-Leben dergleichen nie erfahren.

Die Monde, einer groß und silbern, der andere klein und blaugrün, waren in dieser Nacht dunkel. Tari hatte auf seine Ankündigung mit einem Hilfsangebot reagiert, so wie er es tief in seinem Herzen erwartet hatte. Gemeinsam hatten sie einen Plan erdacht, der höchstwahrscheinlich funktionieren würde. Thrall wusste jedoch nicht, wann der Plan beginnen sollte, und so hoffte er auf ein Signal. Und wartete.

Er war in einen unruhigen Schlaf gefallen, als ihn das Läuten einer Glocke wieder aufweckte. Augenblicklich sprang er hoch und begab sich zur Rückwand seiner Zelle. Über die Jahre hatte Thrall mühsam einen einzigen Stein freigelegt und die Erde dahinter ausgehöhlt. Hier bewahrte er die Dinge auf, die ihm am wichtigsten waren: Taris Briefe. Jetzt zog er den Stein heraus, nahm die Briefe und wickelte sie in den einzigen anderen Gegenstand ein, der ihm etwas bedeutete: das Tuch mit dem weißen Wolf auf blauem Feld. Für einen kurzen Augenblick drückte er das so entstandene Bündel gegen seine Brust. Dann drehte er sich um und wartete auf seine Chance.

Die Glocke schlug weiter, und jetzt waren auch Rufe und Schreie zu vernehmen. Thralls Nase, die viel empfindlicher als die eines Menschen war, witterte Rauch. Mit jedem Herzschlag wurde der Geruch stärker, und dann konnte der Ork sogar den rötlichen und gelben Widerschein in der Dunkelheit seiner Zelle sehen.

»Feuer!«, hörte er die Rufe. »Feuer!«

Ohne zu wissen, warum, warf sich Thrall auf sein Bett aus Stroh. Er schloss die Augen, zwang seinen fliehenden Atem zur Ruhe und täuschte vor zu schlafen.

»Der geht nirgendwo hin«, sagte eine der Wachen. Thrall wusste, dass er beobachtet wurde. Er täuschte weiter tiefen Schlaf vor. »Das verdammte Monster wird auch von gar nichts wach. Komm, wir helfen den anderen.«

»Ich weiß nicht«, sagte die zweite Wache.

In die Alarmrufe mischten sich jetzt helle Kinderschreie und hohe Frauenstimmen.

»Es breitet sich aus«, sagte die erste Wache. »Komm schon!«

Thrall hörte, wie schwere Stiefelsohlen auf Stein aufschlugen. Das Geräusch wurde schwächer. Er war allein.

Er erhob sich und stellte sich vor die schwere Holztür. Natürlich war sie verschlossen, aber es gab niemanden, der sehen konnte, was Thrall als nächstes tun würde.

Er atmete tief ein und warf sich mit der linken Schulter voran gegen das Hindernis. Die Tür gab leicht nach, sprang jedoch nicht auf. Wieder und wieder warf er sich wuchtig dagegen. Fünf Mal musste er seinen mächtigen Körper gegen das Holz rammen, bevor die alte Tür mit lautem Krachen aufflog. Der Schwung trug Thrall nach vorne, und er landete auf dem harten Boden. Der Moment des Schmerzes war jedoch nichts gegen die Erregung, die ihn durchströmte.

Er kannte diese Gänge und konnte im durch die wenigen Fackeln an den Wänden entstehenden Halbdunkel problemlos sehen. Einen Gang hinunter, eine Treppe hinauf, und dann …

Wie schon zuvor in der Zelle erwachte plötzlich sein tiefverwurzelter Instinkt. Er presste sich gegen die Wand und verbarg seinen klobigen Körper so gut es ging in den Schatten. Aus einem anderen Eingang kamen Wachen und stürmten an ihm vorbei. Sie sahen ihn nicht, worauf Thrall erleichtert aufatmete.

Die Wachen ließen die Tür zum Festungshof weit offen stehen. Vorsichtig näherte sich Thrall und spähte nach draußen.

Es herrschte Chaos. Die Ställe waren von Flammen eingehüllt, und die Pferde, Ziegen und Esel galoppierten voller Panik über den Platz. Das war gut, denn so war es unwahrscheinlich, dass ihn in diesem Tumult jemand bemerken würde. Man hatte eine Eimerkette gebildet, und während Thrall zusah, liefen weitere Männer darauf zu und verschütteten in ihrer Hast wertvolles Wasser.

Thrall blickte zur rechten Seite des Hofeingangs. Verborgen in einer dunklen Ecke fand er den Gegenstand, den er gesucht hatte: einen großen schwarzen Umhang. Trotz der Größe konnte der Umhang ihn nicht ganz bedecken. Also verhüllte Thrall wenigstens sein Haupt und die breite Brust. Dann bückte er sich, sodass der kurze Saum über seine Beine fiel, und trat vor.

Der Weg über den Platz bis hin zu den Haupttoren dauerte nur wenige Momente, aber Thrall kamen sie wie eine Ewigkeit vor. Er versuchte seinen Kopf gesenkt zu halten, musste jedoch immer wieder aufsehen, um verängstigten Pferden, schreienden Kindern und Karren auszuweichen, die mit Regenwasser gefüllte Bottiche transportierten.

Klopfenden Herzens bahnte er sich einen Weg durch das Durcheinander. Er fühlte die Hitze, und das Feuer erhellte den Platz beinahe so stark wie Tageslicht. Thrall konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, sich so klein wie möglich zu machen und auf das Tor zuzugehen.

Schließlich schaffte er es. Das Tor war weit offen. Weitere Karren mit Regenwasser rollten hindurch. Den Fahrern fiel es schwer, die verängstigten Pferde unter Kontrolle zu halten. Niemand bemerkte die große Gestalt, die in der Dunkelheit verschwand.

Als die Festung hinter ihm lag, begann Thrall zu rennen. Er lief direkt auf die bewaldeten Hügel zu und verließ die Straße so schnell er konnte. Seine Sinne schienen besser zu funktionieren als je zuvor. Unbekannte Gerüchte erfüllten seine aufgeblähten Nasenflügel, und er glaubte jeden Stein und jeden Grashalm unter seinen hastenden Füßen zu spüren.

Dann fand er die Felsformation, die Taretha ihm beschrieben hatte. Sie hatte gesagt, sie sähe aus wie ein Drachen, der über den Wald wachte. Es war sehr dunkel, aber mit Hilfe seiner exzellenten, auch bei Nacht sehenden Augen entdeckte Thrall einen Felsen, der mit ein wenig Phantasie tatsächlich wie der Hals eines Reptils aussah. Taretha hatte gesagt, darunter befände sich eine Höhle, in der er sicher sein würde.

Für einen kurzen Moment fragte sich Thrall, ob Taretha ihn vielleicht in eine Falle lockte. Aber sofort verdrängte er den absurden Gedanken. Er war ärgerlich und beschämt, weil er überhaupt an so etwas hatte denken können. Taretha war in ihren Briefen stets freundlich gewesen. Wieso sollte sie ihn jetzt verraten? Und warum hätte sie einen so komplizierten Plan ausführen sollen, wenn sie Blackmoore nur die Briefe hätte zeigen müssen, um das gleiche Ergebnis zu erzielen?