Er fand den dunkel gähnenden Halbkreis in der grauen Felswand. Thrall war noch nicht einmal außer Atem, als er sich seiner Zuflucht näherte.
Sie lehnte drinnen an der Wand und wartete auf ihn. Für einen Moment blieb er stehen und war sich bewusst, dass seine Sehkraft der ihren überlegen war. Obwohl sie drinnen und er draußen stand, konnte sie ihn nicht ausmachen.
Thrall wusste nur, nach welchen Maßstäben die Menschen Schönheit definierten – und demnach war Taretha Foxton schön. Ihr langes helles Haar – es war zu dunkel, um die genaue Farbe zu erkennen, aber er hatte sie ab und zu in der Zuschauermenge bei den Kämpfen gesehen – fiel lang über ihren Rücken. Sie trug nur ihre Schlafkleidung und einen Umhang, den sie um ihren schlanken Körper gelegt hatte. Neben ihr stand ein großer Sack.
Nach kurzem Zögern ging er auf sie zu. »Taretha«, sagte er mit rauer Stimme.
Sie zuckte zusammen und sah zu ihm auf. Er dachte, sie habe Angst, aber dann lachte sie. »Du hast mich erschreckt. Ich wusste nicht, dass du dich so leise bewegen kannst.« Ihr Lachen ließ nach, wurde zu einem Lächeln. Sie trat vor und streckte beide Hände nach ihm aus.
Langsam schloss Thrall seine eigenen darum. Die kleinen weißen Hände verschwanden in seinen riesigen grünen Pranken, die fast dreimal so groß waren. Taretha reichte gerade bis zu seinem Ellenbogen, trotzdem bemerkte er keine Angst in ihrem Gesicht, nur Freude.
»Ich könnte dich mit Leichtigkeit töten«, sagte er und fragte sich, welches abseitige Gefühl ihn diese Worte sprechen ließ. »Es gäbe keine Zeugen.«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Das könntest du, aber das wirst du nicht«, sagte sie mit warmer melodiöser Stimme.
»Woher weißt du das?«
»Weil ich dich kenne.«
Er öffnete seine Hände und entließ sie aus seinem Griff.
»Hattest du irgendwelche Schwierigkeiten?«, fragte sie.
»Keine«, sagte er. »Der Plan hat glänzend funktioniert. Es gab so viel Chaos, dass ein ganzes Ork-Dorf hätte entkommen können. Ich habe bemerkt, dass du die Tiere vor dem Anzünden des Stalls freigelassen hast.«
Sie grinste erneut. Mit ihrer keck nach oben gerichteten Nasenspitze sah sie noch jünger aus, als sie wahrscheinlich war … Wie alt mochte sie wohl sein? Zwanzig, fünfundzwanzig Jahre?
»Natürlich, sie können ja nichts dafür. Ich wollte nie, dass ihnen etwas geschieht. Jetzt sollten wir uns aber beeilen.« Sie sah zurück nach Durnholde, wo noch immer Rauch und Flammen in den Nachthimmel emporstiegen. »Sie haben es bald unter Kontrolle. Dann werden sie dein Verschwinden bemerken.« Ein Gefühl, das Thrall nicht einzuordnen vermochte, verfinsterte kurz ihr Gesicht. »Und meines.« Sie nahm den Sack und öffnete ihn. »Setz dich hin, ich will dir etwas zeigen.«
Er gehorchte. Tari wühlte in dem Sack herum und zog eine Schriftrolle hervor. Sie entrollte sie, hielt eine Seite fest und bedeutete ihm, das Gleiche mit der anderen zu tun.
»Das ist eine Karte«, sagte Thrall.
»Ja, und zwar die genaueste, die ich finden konnte. Hier ist Durnholde«, sagte Taretha und zeigte auf die Umrisse eines kleinen burgähnlichen Gebildes. »Wir befinden uns südwestlich davon, also hier. Die Lager liegen alle in einem Radius von zwanzig Meilen rund um Durnholde – hier, hier, hier, hier und hier.« Sie zeigte auf Zeichnungen, die so klein waren, dass Thrall sie in dem schlechten Licht kaum erkennen konnte. »Wenn du sicher sein willst, solltest du in diese Wildnis hier gehen. Ich habe gehört, dass sich manche aus deinem Volk noch dort verstecken. Blackmoores Männer finden immer nur Spuren von ihnen, nie sie selbst.« Sie sah zu ihm auf. »Du musst sie irgendwie finden, Thrall. Du brauchst ihre Hilfe.«
Dein Volk? So hatte Taretha es ausgedrückt. Nicht die Orks, dieses Vieh oder diese Ungeheuer. Die Dankbarkeit, die in ihm aufstieg, war so überwältigend, dass er für einen Moment nicht sprechen konnte. Schließlich brachte er hervor: »Wieso tust du das? Wieso willst du mir helfen?«
Sie sah ihn ruhig an, zuckte nicht vor seinem Anblick zurück. »Weil ich dich als Baby kannte. Du warst wie ein kleiner Bruder für mich. Und als … als Faralyn kurz darauf starb, warst du der einzige kleine Bruder, den ich noch hatte. Ich habe gesehen, was sie dir antaten, und ich hasste es. Ich wollte dir helfen, deine Freundin sein.« Jetzt sah sie doch weg. »Und ich mag unseren Herrn ebenso wenig wie du.«
»Hat er dich verletzt?« Die Wut, die er spürte, überraschte Thrall.
»Nein, nicht wirklich.« Eine Hand griff nach ihrem Handgelenk und massierte es sanft. Unter dem Ärmel sah Thrall den dunklen Schatten einer verheilenden Prellung. »Nicht körperlich. Es ist komplizierter.«
»Sag es mir.«
»Thrall, die Zeit ist …«
»Sag es mir!«, brüllte er. »Du bist meine Freundin, Taretha. Zehn Jahre lang hast du mir geschrieben und mich zum Lächeln gebracht. Ich wusste, dass jemand weiß, wer ich wirklich bin, nicht nur … irgendein Ungeheuer im Gladiatorenring. Du warst mein Licht in der Dunkelheit.« Mit all der Zärtlichkeit, die er aufbringen konnte, legte er seine Hand vorsichtig auf ihre Schulter. »Sag es mir«, drängte er erneut mit sanfter Stimme.
Ihre Augen schimmerten feucht. Erstaunt sah er zu, als eine Flüssigkeit daraus über ihre Wangen lief.
»Ich schäme mich so,« flüsterte sie.
»Was passiert mit deinen Augen?«, fragte Thrall. »Und was soll ›schämen‹ bedeuten?«
»O Thrall«, sagte sie mit belegter Stimme und wischte sich über die Augen. »Das nennt man Tränen. Sie kommen, wenn wir traurig sind, wenn unsere Seele krank ist. Es ist, als sei unser Herz so voller Schmerz, dass er nirgendwo anders hin kann.« Taretha atmete zitternd ein. »Und Scham … das ist, wenn du etwas getan hast, das gegen alles steht, was du je zu sein glaubtest, und wenn du dir wünschst, niemand würde je davon erfahren. Aber da es jeder weiß, sollst auch du es erfahren. Ich bin Blackmoores Mätresse.«
»Was bedeutet das?«
Sie sah ihn traurig an. »Du bist so unschuldig, Thrall, so rein. Aber eines Tages wirst du es verstehen.«
Plötzlich erinnerte sich Thrall an prahlerische Unterhaltungen, die er auf dem Übungsplatz mit angehört hatte und verstand, was Taretha meinte. Aber er schämte sich nicht für sie, sondern fühlte nur Wut darüber, dass Blackmoore noch tiefer gesunken war, als selbst er es geglaubt hätte. Er wusste, wie hilflos man gegenüber Blackmoore war, und Taretha war so klein und so zierlich, dass sie noch nicht einmal kämpfen konnte.
»Komm mit mir«, drängte er.
»Ich kann nicht. Was würde nach meiner Flucht mit meiner Familie geschehen und … nein.« Impulsiv ergriff sie Thralls Hände. »Aber du kannst es. Bitte geh jetzt. Ich werde mich besser fühlen, wenn ich weiß, dass wenigstens du ihm entkommen bist. Sei frei für uns beide.«
Er nickte, war unfähig zu sprechen. Er hatte gewusst, dass er sie vermissen würde, aber nach ihrem ersten wirklichen Gespräch berührte ihn ihr Verlust noch viel schmerzlicher.
Sie wischte noch einmal über ihr Gesicht und sprach mit festerer Stimme. »Der Sack ist voller Essen und einigen Wasserschläuchen. Ich habe ein Messer für dich stehlen können. Ich habe es nicht gewagt, etwas zu stehlen, das man vielleicht bemerken würde. Und zuletzt habe ich dies für dich.« Sie neigte ihren Kopf und entfernte eine schmale silberne Kette von ihrem schlanken Hals. Daran hing eine Mondsichel. »Nicht weit von hier entfernt befindet sich ein alter Baum, den der Blitz gespalten hat. Blackmoore lässt mich dort spazieren gehen, wenn ich es wünsche. Zumindest dafür bin ich dankbar. Wenn du in der Nähe bist und Hilfe brauchst, lege diese Halskette in den Stamm des alten Baums und ich werde dich in dieser Höhle treffen, um dir zu helfen.«
»Tari …« Thrall sah sie gepeinigt an.
»Beeil dich.« Sie warf einen ängstlichen Blick zurück nach Durnholde. »Ich habe eine Ausrede für meine Abwesenheit, aber sie ist glaubwürdiger, wenn ich so schnell wie möglich zurückkehre.«