Sie erhoben sich und sahen einander unsicher an. Bevor Thrall begriff, was geschah, legte Tari ihre Arme so weit es ging um seinen massigen Oberkörper und presste ihr Gesicht gegen seinen Bauch. Thrall spannte sich an. Eine solche Bewegung kannte er sonst nur als Versuch eines Angriffs, aber obwohl er noch nie so berührt worden war, begriff er es in diesem Augenblick als Zeichen tiefer Zuneigung. Er folgte seinen Instinkten und strich vorsichtig über ihren Kopf.
»Sie nennen dich ein Ungeheuer«, sagte sie, »aber sie sind die Ungeheuer, nicht du. Leb wohl, Thrall.«
Taretha drehte sich um, hob ihren Rock leicht an und rannte nach Durnholde zurück. Thrall sah ihr nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden war. Dann legte er die silberne Halskette vorsichtig in sein Bündel und verstaute es im Sack.
Dann hob er das schwere Bündel – es musste fast über Taris Kräfte gegangen sein, es so weit zu schleppen – auf und warf es über seine Schulter. Und wenig später marschierte der ehemalige Sklave mutig seinem ungewissen Schicksal entgegen.
7
Thrall wusste, dass Taretha ihm die Standorte der Lager verraten hatte, damit er sie meiden konnte. Sie wollte, dass er nach den freien Orks suchte. Er wusste jedoch nicht, ob diese »freien Orks« überhaupt noch lebten oder nur der Wunschphantasie irgendeines alten Kriegers entsprangen. Er hatte unter Jaramins Anleitung Karten studiert, also wusste er, wie man die las, die Tari ihm gegeben hatte.
Und er machte sich auf den direkten Weg zu einem der Lager auf.
Er suchte nicht das aus, das Durnholde am nächsten gelegen war. Wahrscheinlich hatte Blackmoore Alarm ausgerufen, nachdem Thralls Verschwinden entdeckt worden war. Laut Karte gab es eines, das einige Meilen von der Festung entfernt lag, in der Thrall aufgewachsen war, und dieses wollte er besuchen.
Er wusste nur wenig über die Lager und diese spärlichen Informationen stammten von Menschen, die sein Volk hassten. Während er ausdauernd und unermüdlich auf sein Ziel zuging, überschlugen sich seine Gedanken. Wie würde es sein, so viele Orks an einem Ort zu sehen? Würden sie seine Sprache verstehen? Oder war sie durch seinen menschlichen Akzent so unkenntlich geworden, dass er nicht in der Lage sein würde, auch nur die einfachste Unterhaltung zu führen? Würden sie ihn herausfordern? Er wollte nicht gegen sie kämpfen, aber alles deutete darauf hin, dass die Orks harte, stolze und unbeugsame Krieger waren. Er war ein ausgebildeter Kämpfer, aber würde das ausreichen, um gegen diese legendären Wesen zu bestehen? Konnte er sich lange genug gegen sie behaupten, um sie davon zu überzeugen, dass er nicht ihr Feind war?
Meile um Meile legte er zurück. Ab und zu sah er zu den Sternen empor, um seine Position zu bestimmen. Er hatte die Navigation nie gelernt, aber eines der geheimen Bücher, die Tari ihm schickte, hatte sich mit den Sternen und deren Koordinaten beschäftigt. Thrall hatte es eingehend studiert und jede Information in sich aufgenommen, die es enthielt.
Vielleicht würde er dem Clan begegnen, der das Emblem des weißen Wolfs auf blauem Grund trug. Vielleicht würde er seine Familie finden. Blackmoore hatte ihm erzählt, er sei nicht weit von Durnholde gefunden worden, also war es nicht unwahrscheinlich, dass Thrall Angehörige seines Clans finden würde.
Aufregung durchflutete ihn. Es fühlte sich gut an.
Er lief die ganze Nacht und ruhte sich erst aus, als die Sonne aufging. So wie er Blackmoore kannte, suchten die Männer des Generalleutnants bereits nach ihm. Eventuell setzten sie sogar eine ihrer berüchtigten Flugmaschinen ein. Thrall hatte nie eine gesehen und insgeheim ihre Existenz bezweifelt. Aber wenn es sie gab, würde Blackmoore sie verwenden, um seinen geflohenen Champion wiederzufinden.
Thrall dachte an Tari und hoffte verzweifelt, dass niemand entdeckte, welche Rolle sie bei seiner Flucht gespielt hatte.
Blackmoore glaubte, dass er in seinem ganzen Leben noch nie so zornig gewesen war, und das sagte eine Menge aus. Das Glockengeläut hatte ihn geweckt. Er schlief allein in dieser Nacht, weil Taretha behauptete, krank zu sein. Entsetzt hatte er vor seinem Fenster wütend rote Flammen gesehen und Rauch über dem Festungshof. Er warf sich Kleidung über und mischte sich unter die übrige Bevölkerung von Durnholde, die verzweifelt versuchte, das Feuer unter Kontrolle zu bringen. Es dauerte einige Stunden, und als die erste zaghafte Morgenröte den Himmel zu erhellen begann, war nichts mehr übrig außer rußgeschwärzten Ruinen.
»Es ist ein Wunder, dass niemand verletzt wurde«, sagte Langston und wischte sich über seine Stirn. Sein bleiches Gesicht war schmutzig von Asche und Rauch. Blackmoore nahm an, dass er selbst nicht besser aussah. Alle Anwesenden waren dreckig und verschwitzt. Die Diener würden einiges an Wäsche aufzuarbeiten haben.
»Sogar die Tiere sind unverletzt«, sagte Tammis und trat neben sie. »Sie dürften unmöglich allein entkommen sein. Wir können nicht sicher sein, Mylord, aber es sieht so aus, als habe jemand das Feuer absichtlich gelegt.«
»Beim Licht!«, stieß Langston hervor. »Glaubst du das wirklich? Wer würde so etwas tun?«
»Ich würde meine Feinde an den Fingern abzählen, wenn ich so viele Finger hätte«, grollte Blackmoore. »Und Zehen. Es gibt genügend Bastarde, die eifersüchtig auf meinen Rang und auf meinen … Lothars Geist!« Der Fluch rann ihm über die Lippen. Ihm wurde plötzlich kalt, und er ahnte, dass sein Gesicht weiß unter dem Ruß geworden war. Langston und Tammis starrten ihn an.
Er nahm sich nicht die Zeit, um seine Sorge in erklärende Worte zu fassen. Er sprang von den Steinstufen auf, auf denen er gesessen hatte, und lief zurück zur Festung. Freund und Diener folgten ihm, lauthals rufend: »Blackmoore, wartet!« und »Mylord, was ist in Euch gefahren?«
Blackmoore ignorierte beide. Er hastete durch Korridore und Treppen hinauf, bis er vor dem zerbrochenen Gebilde stehen blieb, das einmal die Tür von Thralls Zelle gewesen war. Seine schlimmste Befürchtung hatte sich bewahrheitet.
»Sie sollen verdammt sein!«, schrie er. »Jemand hat meinen Ork gestohlen! Tammis! Ich will Männer, ich will Pferde, ich will Flugmaschinen – ich will Thrall unter allen Umständen wieder zurück!«
Thrall war überrascht über die Tiefe seines Schlafs und die Lebendigkeit seiner Träume. Er erwachte, als es Nacht wurde und blieb für einen Moment einfach liegen. Er fühlte das weiche Gras unter seinem Körper und genoss die Brise auf seinem Gesicht. Dies war die Freiheit, und sie schmeckte unendlich süß. Wertvoll. Er verstand jetzt, warum manche eher sterben wollten als in Gefangenschaft zu leben.
Ein Speer stieß gegen seinen Nacken, und die Gesichter von sechs Männern – Menschen – starrten auf ihn herab.
»Du«, sagte einer von ihnen, »steh auf!« Thrall grollte sich selbst, während er hinter einem Pferd hergezogen wurde und jeweils zwei Männer rechts und links von ihm eine Eskorte bildeten. Wie hatte er nur so dumm sein können? Er hatte sich die Lager ansehen wollen – aber aus sicherer Entfernung und aus dem Verborgenen heraus. Er hatte nur vorgehabt zu beobachten, nicht, ebenfalls eingepfercht zu werden.
Er versuchte zu fliehen, aber vier hatten Pferde und ritten ihn sofort nieder. Sie verfügten über Netze, Speere und Schwerter, und Thrall schämte sich, als sie ihn so schnell und mühelos überwältigten. Zunächst wollte er sich wehren, aber dann entschied er sich dagegen. Er wusste, dass diese Männer nicht für seine anschließende Behandlung zahlen würden und wollte sich seine Unversehrtheit bewahren. Außerdem gab es wohl keine bessere Möglichkeit, Orks zu treffen, als sich mit ihnen zusammen einsperren zu lassen. Die Krieger waren so wild, dass sie jede Gelegenheit zu fliehen beim Schopf packen würden. Und Thrall wusste genug, um sie bei diesem Vorhaben zu unterstützen.
Deshalb mimte er den Geschlagenen – auch wenn er sich zutraute, mit allen vieren fertig werden zu können. Er bereute seine Entscheidung jedoch, als die Kerle in dem Sack herumzuwühlen begannen.