Ein paar Wochen später, als der Frühling in voller Blüte stand, fiel es Thrall sehr leicht, in ein Dorf zu trotten, die Bauern anzubrüllen und sich gefangen nehmen zu lassen. Sobald sich das Fangnetz um ihn geschlossen hatte, gab er nach und wimmerte, um die Menschen glauben zu machen, sie hätten seinen Geist gebrochen.
Als sie ihn ins Lager brachten, spielte er seine jämmerliche Rolle weiter. Doch sobald die Wachen sich an den Neuen gewöhnt hatten, begann Thrall leise zu jenen zu sprechen, die bereit waren, ihm zuzuhören. Er wählte die wenigen aus, die noch immer etwas Geist und Willen zu besitzen schienen. Nachts, wenn die menschlichen Wachen auf ihren Posten schliefen, erzählte Thrall diesen Orks von ihren Ursprüngen. Er sprach von der Macht der Schamanen, von seinen eigenen Fähigkeiten. Mehr als einmal verlangten seine Zuhörer Beweise. Thrall ließ nicht die Erde beben, noch rief er den Donner und den Blitz an. Stattdessen nahm er eine Handvoll Schlamm auf und suchte nach den Resten von Leben in ihm. Vor den großen Augen der Gefangenen ließ er aus der braunen Erde Gras und sogar Blumen sprießen.
»Selbst das, was tot und hässlich scheint, besitzt Macht und Schönheit«, erklärte Thrall seinem staunenden Publikum. Sie wandten sich ihm zu, und sein Herz sprang vor Freude, wenn er einen schwachen Schimmer von Hoffnung in ihren Gesichtern aufglimmen sah.
Während Thrall sich freiwillig der Gefangenschaft unterwarf, um die geschlagenen, gefangenen Orks in den Lagern zu wecken, hatten die Eiswölfe und die Warsongs sich unter Doomhammer vereint. Sie beobachteten das Lager, in dem Thrall wirkte, und warteten auf sein Signal.
Es dauerte länger, als Thrall erwartet hatte, die unterdrückten Orks so weit zu bringen, auch nur an Rebellion zu denken, aber schließlich entschied er, dass die Zeit gekommen sei. In den dunklen Stunden nach Mitternacht, als nur das leise Schnarchen einzelner Wachen die Stille störte, kniete sich Thrall auf den guten, festen Boden. Er hob seine Hände und bat die Geister des Wassers und des Feuers zu kommen und ihm bei der Befreiung seiner Leute zu helfen.
Sie kamen.
Ein leichter Regen begann zu fallen. Plötzlich wurde der Himmel von drei Blitzen aufgespalten. Eine Pause. Dann wiederholte sich das Schauspiel. Wütender Donner begleitete jeden Blitz und ließ die Erde schwach erzittern. Das war das Signal, auf das sie sich geeinigt hatten.
Die Orks im Lager warteten, ängstlich, aber bereit. Sie umklammerten ihre behelfsmäßigen Waffen aus Steinen und Stöcken und anderen Dingen, die man im Lager finden konnte. Sie warteten darauf, dass Thrall ihnen sagte, was sie zu tun hatten.
Ein entsetzlicher Schrei gellte durch die Nacht, durchdringender noch als der Donner, und Thrall lächelte breit. Er hätte diesen Schrei überall erkannt – es war Grom Hellscream. Der Lärm erschreckte die Orks, aber Thrall schrie über ihn hinweg: »Das sind unsere Verbündeten jenseits der Mauern! Sie sind gekommen, um uns zu befreien!«
Die Wachen waren vom Donner geweckt worden. Jetzt rannten sie auf ihre Posten, während Hellscreams Schrei bereits verklang, aber sie kamen zu spät. Thrall bat ein weiteres Mal um den Blitz. Und er kam.
Ein gezackter Strahl traf die Hauptmauer, wo die meisten Wachen sich versammelt hatten. In das Getöse des zusammenstürzenden Steins mischte sich das Grollen des Donners und das Geschrei der Wachen. Thrall blinzelte in der plötzlichen Finsternis, aber Feuer brannten noch immer hier und dort, und er konnte sehen, dass die Mauer vollkommen durchbrochen war.
Durch diese Bresche brach eine Woge geschmeidiger, grüner Körper. Sie griff die Wachen an und überwältigte sie mit geradezu beiläufiger Leichtigkeit. Die gefangenen Orks gafften erstaunt.
»Fühlt ihr, wie es sich in euch rührt?«, schrie Thrall. »Fühlt ihr, wie euer Geist sich danach sehnt, zu kämpfen, zu töten, frei zu sein? Kommt, meine Brüder und Schwestern!« Ohne sich umzuwenden, um sich zu vergewissern, dass sie ihm folgten, stürmte Thrall auf die Öffnung zu.
Er hörte ihre zögerlichen Stimmen hinter sich, die mit jedem Schritt, den sie auf die Freiheit zu taten, lauter wurden. Plötzlich grunzte Thrall vor Schmerz auf, als etwas seinen Arm durchbohrte. Ein Pfeil war beinahe ganz in ihn eingesunken. Er ignorierte den Schmerz. Darum konnte er sich kümmern, wenn alle frei waren.
Um Thrall herum wurde gekämpft. Er hörte den Stahl, der auf das Schwert traf, die Axt, die in Fleisch biss. Einige der Wachen, die Klügeren unter ihnen, hatten erkannt, was hier geschah und eilten herbei, um den Ausgang mit ihren eigenen Körpern zu blockieren. Für einen Augenblick fühlte Thrall Trauer über die Sinnlosigkeit ihres Todes, dann stürmte er vor.
Er schnappte sich die Waffe eines gefallenen Orks und schlug eine unerfahrene Wache mit Leichtigkeit zurück. »Geht, geht!«, schrie er und winkte mit der linken Hand. Die gefangenen Orks erstarrten zunächst und drängten sich eng aneinander, dann schrie einer von ihnen und stürmte ebenfalls vorwärts. Der Rest folgte. Thrall hob seine Waffe, ließ sie nieder sausen, und die tote Wache fiel in den blutigen Schlamm.
Vor Anstrengung keuchend blickte sich Thrall um. Er sah nur noch die Krieger der Warsongs und der Eiswölfe im Kampf mit den Wachen. Die Gefangenen waren aus dem Lager verschwunden.
»Rückzug!«, schrie er und machte sich auf den Weg über die noch immer heißer Steine, die einmal Gefängnismauern gewesen waren, in die süße Finsternis der Nacht. Die Clansleute folgten. Ein oder zwei Wachen folgten ihnen, aber die Orks waren schneller und hatten sie bald abgeschüttelt.
Der Treffpunkt, den sie ausgemacht hatten, war ein alter Ring stehender Steine. Die Nacht war dunkel, aber Ork-Augen sahen auch ohne das Licht des Mondes. Als Thrall am Treffpunkt anlangte, standen Dutzende von Orks bei den acht aufragenden Steinen.
»Geglückt!«, schrie eine Stimme zu Thralls Rechten. Er wandte sich um und sah Doomhammer, dessen schwarze Rüstung mit einer solchen leuchtenden Nässe überzogen war, dass es nur vergossenes menschliches Blut sein konnte. »Geglückt! Ihr seid frei, meine Brüder! Ihr seid frei!«
Und der Ruf, der in der mondlosen Nacht anschwoll, erfüllte Thralls Herz mit Freude. »Wenn du mir die Nachrichten bringst, von denen ich glaube, dass du sie mir bringst, dann fühle ich mich geneigt, deinen hübschen Kopf von den Schultern zu trennen«, knurrte Blackmoore den unglückseligen Boten an, der ein Bandelier trug, das ihn als einen Reiter aus einem der Lager auswies.
Der Bote sah aus, als würde ihm übel. »Vielleicht sollte ich dann nicht sprechen«, entgegnete er.
Eine Flasche stand zu Blackmoores Rechten und schien nach ihm zu rufen. Er ignorierte ihre Bitten trotz seiner schweißnassen Handflächen.
»Lass mich raten. Es hat wieder einen Aufstand in einem der Lager gegeben. Alle Orks sind entkommen. Niemand weiß, wohin sie sind.«
»Lord Blackmoore«, schluckte der junge Bote, »werdet Ihr mir den Kopf abschlagen, wenn ich Eure Worte bestätige?«
Die Wut explodierte in Blackmoore mit solcher Gewalt, dass sie fast einem körperlichen Schmerz gleichkam – und wurde sofort durch ein tiefes Gefühl schwarzer Verzweiflung abgelöst. Was ging hier vor? Wie hatten diese Schafe in Ork-Gestalt sich dazu aufraffen können, ihre Wärter zu überwältigen? Wer waren diese Orks, die aus dem Nichts erschienen waren, bis an die Zähne bewaffnet und von einer Wut erfüllt, die man seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte? Es gab Gerüchte, dass Doomhammer – verflucht sollte seine verrottete Seele sein! – aus seinem Versteck gekrochen sei und die Aufstände anführe. Eine Wache hatte geschworen, sie habe die berühmte schwarze Rüstung des Bastards gesehen.