Thrall wandte sich um und ging. Betäubtes Schweigen folgte ihm. Er hörte ein grollendes Lachen in der Dunkelheit, und plötzlich erschien Doomhammer neben ihm. »Du machst es dir unnötig schwer«, sagte der große Kriegshäuptling. »Es liegt ihnen im Blut zu töten.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Thrall. »Ich glaube, dass man uns manipulierte und aus edlen Kriegern Mörder formte, Marionetten, deren Fäden von Dämonen gezogen wurden – und von jenen aus unserem eigenen Volk, die uns verraten haben.«
»Es … es ist ein fürchterlicher Tanz«, erklang Hellscreams Stimme, so leise und schwach, dass Thrall sie beinahe nicht erkannte. »So missbraucht zu werden. Die Macht, die sie uns gaben … sie war wie der süßeste Honig, das saftigste Fleisch. Du hast Glück, Thrall, dass du niemals von diesem Brunnen getrunken hast. Und dann auf ihn verzichten zu müssen … Es ist beinahe … unerträglich.« Er schauderte.
Thrall legte eine Hand auf Hellscreams Schulter. »Und doch hast du es ertragen, tapferer Ork«, sagte er. »Dein Mut lässt den meinen so gering erscheinen.«
Hellscreams rote Augen leuchteten in der Dunkelheit, und in ihrem höllischen blutigen Licht konnte Thrall sehen, dass er lächelte. Es war in den frühen, finsteren Morgenstunden, als die neue Horde das fünfte Lager umzingelte.
Die Kundschafter kehrten zurück. »Die Soldaten sind wachsam«, berichteten sie Doomhammer. »Sie haben doppelt so viele Männer wie üblich auf den Mauern postiert, und sie haben viele Feuer entzündet, damit ihre schwachen Augen sehen können.«
»Und sie haben das Licht der vollen Monde«, sagte Doomhammer. Er blickte zu den silbern und blau-grün leuchtenden Scheiben hinauf. »Die weiße Dame und das blaue Kind sind heute Nacht nicht unsere Freunde.«
»Wir können nicht zwei Wochen warten«, sagte Hellscream. »Die Horde dürstet nach einer gerechten Schlacht, und wir müssen zuschlagen, so lange unsere Leute noch stark genug sind, um der dämonischen Trägheit zu widerstehen.«
Doomhammer nickte, doch er blickte weiterhin besorgt. Die Kundschafter fragte er: »Irgendwelche Anzeichen, dass sie einen Angriff erwarten?«
Eines Tages, das wusste Thrall, würde das Glück sie im Stich lassen. Sie hatten darauf geachtet, die Lager nicht nach einem bestimmten System auszusuchen, um es den Menschen unmöglich zu machen, zu erraten, wo sie als nächstes zuschlagen würden. So konnten sie nicht auf der Lauer liegen. Aber Thrall kannte Blackmoore und wusste, dass er ihm irgendwann, an irgendeinem Ort begegnen würde.
Und so sehr er sich wünschte, Blackmoore endlich im fairen Kampf gegenüberzustehen, wusste er doch, was das für die Truppen bedeuten würde. Um ihretwillen hoffte er, dass heute Nacht nicht bereits dieser Fall eintreten würde.
Die Kundschafter schüttelten die Köpfe.
»Dann lasst uns angreifen«, sagte Doomhammer, und schweigend flutete die grüne Woge den Hügel hinab und auf das Lager zu.
Sie hatten es fast erreicht, als die Tore aufflogen und Dutzende bewaffneter Männer auf Pferden herausstürmten. Thrall erkannte den schwarzen Falken auf der rot-goldenen Standarte und wusste, dass der Tag, den er gleichzeitig gefürchtet und erhofft hatte, gekommen war.
Hellscreams Schlachtruf durchschnitt die Nacht und ertränkte beinahe die Schreie der Menschen und das Donnern der Hufe. Die Horde schien sich von der Stärke des Feindes nicht entmutigen zu lassen. Tatsächlich wirkte sie von neuem Leben erfüllt und bereit, sich der Herausforderung zu stellen.
Thrall warf den Kopf zurück und brüllte seinen eigenen Schlachtruf. Das Gedränge war zu groß, als dass er solch große Mächte wie den Blitz und das Erdbeben hätte anrufen können, aber es gab andere, die er um Hilfe bitten konnte. Trotz eines geradezu überwältigenden Drangs, sich in die Schlacht zu stürzen und Mann gegen Mann zu kämpfen, hielt er sich zurück. Dafür war noch Zeit genug, nachdem er alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um den Orks einen Vorteil zu verschaffen.
Er schloss die Augen, stemmte seine Füße fest ins Gras und rief den Geist der Wildnis. Ihm erschien ein großes, weißes Pferd, der Geist aller Pferde, und Thrall sprach seine Bitte aus.
Die Menschen benutzen deine Kinder, um uns zu töten. Auch sie sind in Gefahr. Wenn die Pferde ihre Reiter abwerfen, sind sie frei und können sich in Sicherheit bringen. Kannst du sie bitten, dies zu tun?
Das große Pferd dachte nach. Diese Kinder sind trainiert für den Kampf. Sie haben keine Angst vor Schwertern und Speeren.
Aber es ist nicht nötig, dass sie heute sterben, entgegnete Thrall. Wir wollen nur unsere Leute befreien. Es ist eine gerechte Sache, und deine Kinder sollten nicht im Kampf gegen uns sterben.
Wieder dachte der große Pferdegeist über Thralls Worte nach. Schließlich nickte er mit dem riesigen weißen Kopf.
Plötzlich geriet das Schlachtfeld in noch größere Unordnung, als jedes Pferd entweder kehrt machte und mit einem erschreckten und wütenden Menschen davon galoppierte oder sich auf die Hinterbeine erhob und seinen Reiter abwarf. Die Menschen kämpften darum, sich auf ihren Pferden zu halten, aber es war unmöglich.
Jetzt war es an der Zeit, den Geist der Erde um Hilfe zu bitten. Thrall stellte sich vor, wie die Wurzeln jenes Waldes, der das Lager umgab, ausgriffen, wuchsen und aus der Erde hervorbrachen. Bäume, die ihr uns Zuflucht gewährt habt … werdet ihr uns auch jetzt helfen?
Ja, kam die Antwort in seinem Geist. Thrall öffnete die Augen und bemühte sich zu sehen. Selbst mit seiner hervorragenden Nachtsicht war es schwierig auszumachen, was geschah. Aber er konnte es schwach erkennen.
Wurzeln stießen aus der harten Erde vor den Lagermauern hervor. Sie schossen aus dem Boden und packten die Männer, die von ihren Pferden gefallen waren. Sie wanden ihre bleichen Tentakel um die Menschen wie Netze, die sich um gefangene Orks schlossen. Zu Thralls Freude töteten die Orks die gefallenen Wachen nicht, als sie hilflos am Boden lagen. Stattdessen wandten sie sich anderen Zielen zu, drangen in das Lager ein und suchten nach ihren gefangenen Brüdern und Schwestern.
Eine weitere Feindeswelle stürmte heraus, Menschen zu Fuß. Die Bäume sandten ihre Wurzeln nicht ein zweites Mal aus; sie hatten alle Hilfe gegeben, die sie zu geben bereit waren. Trotz seiner Enttäuschung dankte Thrall ihnen und zermarterte sich das Gehirn, was er als nächstes tun sollte.
Er entschied, dass er alles getan hatte, was er als Schamane zu bewirken vermochte. Jetzt war es an der Zeit als Krieger zu handeln. Thrall packte das riesige Breitschwert, das ihm Hellscream geschenkt hatte, und stürmte den Hügel hinab, um seinen Brüdern zu helfen.
Noch nie in seinem Leben hatte Lord Karramyn Langston solche Angst empfunden.
Er war zu jung, um an den Schlachten im letzten Krieg zwischen Menschen und Orks Teil genommen zu haben, und hatte stets an jedem Wort gehangen, das sein Idol Lord Blackmoore von diesen Kämpfen erzählt hatte. Wenn Blackmoore von den Schlachten sprach, klang es so leicht wie die Jagd in den Wäldern um Durnholde, nur viel aufregender. Blackmoore hatte nichts von den Schreien und dem Stöhnen der Männer erzählt, dem Gestank von Blut und Fäkalien – und Orks! Tausende verschiedene Bilder griffen seine Augen gleichzeitig an. Nein, der Kampf gegen die Orks hatte wie ein herzerfrischender Spaß geklungen, nach dem man sich badete, einen Wein genoss und der Bewunderung durch die Frauen widmete.