Sie hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite gehabt. Sie waren auf die grünen Monster vorbereitet gewesen. Was war passiert? Warum waren die Pferde, jedes von ihnen ein gut trainiertes Tier, geflohen oder hatten ihre Reiter abgeworfen? Was für ein böser Zauber hatte die Erde dazu gebracht, ihre bleichen Arme auszustrecken und jene zu fesseln, die das Unglück hatten zu fallen? Woher kamen die schrecklichen weißen Wölfe? Und wie wussten sie, wen sie anzugreifen hatten?
Langston erhielt auf keine seiner Fragen eine Antwort. Er hatte den Befehl über die Truppe, aber jedes Gefühl, sie zu kontrollieren, war geschwunden, kaum dass diese schrecklichen Tentakel aus der Erde hervorgebrochen waren. Jetzt gab es nur noch reine Panik, die Geräusche von Schwert auf Schild oder Fleisch und die Schreie der Sterbenden.
Langston wusste nicht, gegen wen er gerade kämpfte. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen, und er schwang sein Schwert blind, schreiend und schluchzend bei jedem wilden Schlag. Manchmal biss Langstons Schwert in Fleisch, doch meist hörte er nur, wie es die Luft durchschnitt. Er wurde allein von seinem Entsetzen angetrieben, und eine leise Stimme in seinem Kopf fragte sich, wie lange er das Schwert noch würde schwingen können.
Ein gewaltiger Schlag auf seinen Schild erschütterte seinen Arm bis hinauf zu den Zähnen. Irgendwie gelang es ihm, den Schutz hochzuhalten, während eine gigantische Kreatur von enormer Stärke darauf einhämmerte. Für einen kurzen Moment trafen Langstons Augen die seines Angreifers, und vor Schrecken klappte ihm der Mund auf.
»Thrall!«, schrie er.
Die Augen des Orks weiteten sich, als er ihn erkannte, und verengten sich dann in tödlicher Wut. Langston sah, wie sich eine riesige grüne Faust hob.
Dann wusste er nichts mehr.
Das Leben von Langstons Männern war Thrall egal. Sie standen zwischen ihm und der Befreiung der gefangenen Orks. Sie hatten sich in einen ehrlichen Kampf begeben, und wenn sie darin starben, so war es ihr Schicksal. Aber Langston wollte er lebend.
Er erinnerte sich an Blackmoores kleinen Schatten. Langston sagte niemals viel, blickte Blackmoore nur mit einem begeisterten Gesichtsausdruck an und Thrall mit einer Grimasse, die Ekel und Verachtung ausdrückte. Aber Thrall wusste, dass niemand seinem Feind näher stand als dieser jämmerliche Mann mit dem schwachen Willen, und obwohl er es nicht verdiente, würde Thrall dafür sorgen, dass Langston die Schlacht überlebte.
Er warf sich den bewusstlosen Captain über die Schulter und kämpfte sich zurück durch die dunkle Flut der fortdauernden Schlacht. Er eilte in den Schutz des Waldes und warf Langston am Fuß einer alten Eiche zu Boden wie einen Sack Kartoffeln. Er fesselte die Hände des Mannes mit dessen eigenem Bandelier. Bewache ihn gut, bis ich zurückkehre, bat er die alte Eiche. Als Antwort hoben sich die riesigen Wurzeln und schlossen sich unsanft um Langstons reglose Gestalt.
Thrall stürmte wieder zurück in die Schlacht. Sonst gelangen die Befreiungen mit erstaunlicher Schnelligkeit, aber nicht dieses Mal. Die Kämpfe dauerten noch immer an, als Thrall wieder zu seinen Kameraden stieß, und sie schienen endlos weiterzugehen. Aber die gefangenen Orks taten, was sie konnten, um der Freiheit entgegenzulaufen.
Es gelang Thrall, sich an den Menschen vorbei zu kämpfen, und er durchsuchte das Lager. Er fand mehrere Orks, die noch in Ecken kauerten. Zuerst wichen sie vor ihm zurück, und noch immer mit dem Feuer der Schlacht in seinem Blut, fiel es Thrall schwer, sanft zu ihnen zu sprechen. Trotzdem gelang es ihm, sie zu überreden, mit ihm zu kommen und den verzweifelten Ausbruch in die Freiheit an den kämpfenden Kriegern vorbei zu wagen.
Schließlich, als er sich sicher war, dass alle Insassen hatten fliehen können, kehrte er selbst in die Schlacht zurück. Er blickte sich um. Da war Hellscream, der mit all der Kraft und Leidenschaft eines Dämons kämpfte. Aber wo war Doomhammer? Normalerweise hätte der charismatische Kriegshäuptling inzwischen längst den Rückzug befohlen, damit sich die Orks neu formieren, die Verwundeten versorgen und den nächsten Angriff planen konnten.
Es war eine blutige Schlacht, und zu viele seiner Waffenbrüder waren bereits gefallen oder lagen im Sterben. Thrall nahm es als Stellvertretender Kommandeur auf seine Verantwortung zu schreien: »Rückzug! Rückzug!«
Verloren in ihrer Blutlust hörten ihn viele nicht. Thrall rannte von Krieger zu Krieger, wehrte Angriffe ab und schrie das Wort, das die Orks niemals gerne hörten, das aber so notwendig, so entscheidend lebenswichtig für ihre weitere Existenz war: »Rückzug! Rückzug!«
Seine Schreie durchdrangen schließlich den Nebel der Blutlust, und nach ein paar letzten Schwerthieben wandten sich die Orks ab und verließen entschlossen das Lager. Viele der menschlichen Ritter – denn es war klar, dass sie Ritter waren – eilten ihnen hinterher. Thrall wartete draußen und rief: »Los! Los!«
Die Orks waren größer, stärker und schneller als die Menschen, und als auch der letzte Krieger den Hügel hinauf in den Wald hetzte, wirbelte Thrall herum, stemmte seine Füße in dem stinkenden Schlamm aus Erde und Blut und rief schließlich den Geist des Bodens.
Die Erde antwortete. Der Grund unter dem Lager begann zu beben, und vor Thralls Augen brach die Erde auf und hob sich. Die mächtige Steinmauer, die das Lager umgab, brach in sich zusammen. Schreie drangen an Thralls Ohren, nicht Kampfschreie oder Beschimpfungen, sondern Schreie purer Angst. Er wappnete sich gegen eine plötzliche Anwandlung von Mitleid. Diese Ritter kämpften unter Blackmoores Befehl. Es war mehr als wahrscheinlich, dass man sie angewiesen hatte, so viele Orks wie möglich zu töten, alle gefangen zu nehmen, die sie nicht töteten, und Thrall dingfest zu machen, um ihn wieder der Sklaverei zuzuführen. Sie hatten sich entschieden, diesen Befehlen zu gehorchen, und dafür würden sie mit dem Leben bezahlen.
Die Erde bebte. Die Schreie erstarben unter dem schrecklichen Tumult einstürzender Gebäude und zerberstenden Steins. Und dann – beinahe so schnell, wie er gekommen war – erstarb der Lärm.
Thrall stand da und betrachtete die Ruine, die einst ein Lager gewesen war, in dem man sein Volk wie Tiere gehalten hatte. Leise hörte er unter den Trümmern Männer stöhnen, aber Thrall verhärtete sein Herz. Seine eigenen Leute waren verwundet, stöhnten. Er würde sich um sie kümmern.
Er nahm sich einen Moment Zeit, um die Augen zu schließen und der Erde seine Dankbarkeit auszudrücken. Dann wandte er sich um und eilte zum Sammelpunkt seiner Leute.
Die Zeit nach der Schlacht war stets chaotisch, aber dieses Mal hatte Thrall das Gefühl, dass der Tumult sogar noch unorganisierter war als üblich. Während er den Hügel hinaufrannte, kam ihm Hellscream entgegen.
»Es ist Doomhammer«, krächzte Hellscream. »Du musst dich beeilen.«
Thralls Herz setzte einen Schlag aus. Nicht Doomhammer. Sicher konnte er nicht in Gefahr sein … Er folgte Hellscream, der ihm den Weg durch eine dichte Traube schwatzender Orks wies, und stand plötzlich vor Orgrim Doomhammer, der seitlich gegen den Stamm eines Baumes gelehnt lag.
Thrall keuchte entsetzt auf. Mindestens zwei Fuß einer gebrochenen Lanze ragten aus Doomhammers breitem Rücken hervor. Während Thrall von dem Anblick für einen Moment wie gelähmt war, versuchten die beiden persönlichen Diener Doomhammers die runde Brustplatte zu lösen. Jetzt konnte Thrall sehen, wie aus dem schwarzen Gambeson, der die schwere Rüstung auspolsterte, die rote, glitzernde Spitze der Lanze hervorragte. Sie war mit solcher Macht in Doomhammer eingedrungen, dass sie die schwarze Rückenplatte vollkommen durchbohrt, den Körper des Orks glatt durchfahren und die Brustplatte von innen ausgedellt hatte.
Drek’Thar kniete neben Doomhammer und wandte Thrall die blinden Augen zu. Er schüttelte leicht den Kopf, dann erhob er sich und trat zurück.
Das Blut rauschte in Thralls Ohren, und er hörte nur undeutlich, wie der mächtige Krieger seinen Namen sprach. Stolpernd näherte sich Thrall und kniete neben Doomhammer nieder.