Thrall erwartete, dass Drek’Thar nun irgendwelche geeigneten Worte sprechen würde, doch stattdessen stieß Hellscream Thrall an. Unsicher wandte sich Thrall an die Menge, die sich schweigend um die Leiche ihres Häuptlings versammelt hatte.
»Ich habe noch nicht viel Zeit in der Gemeinschaft meines eigenen Volkes verbracht«, begann Thrall. »Ich kenne unsere Traditionen des Jenseits nicht. Aber eines weiß ich: Doomhammer starb so tapfer, wie nur irgendein Ork sterben kann. Er kämpfte in der Schlacht und versuchte seine gefangenen Brüder und Schwestern zu befreien. Sicher wird er uns mit Wohlwollen betrachten, wenn wir ihn jetzt im Tode ehren, wie wir ihn stets im Leben geehrt haben.« Er blickte hinüber zum dem toten Ork. »Orgrim Doomhammer, Ihr wart der beste Freund meines Vaters. Ich konnte nicht hoffen, einem edleren Ork zu begegnen. Ich wünsche Euch eine schnelle Reise an einen freudigen Ort.«
Mit diesen Worten schloss er die Augen und bat den Geist des Feuers, den Helden zu nehmen. Sofort brannte das Feuer schneller und mit größerer Hitze, als Thrall es jemals erlebt hatte. Die Leiche würde bald verschlungen sein, und die Hülle, die den glühenden Geist, den diese Welt Orgrim Doomhammer nannte, beherbergt hatte, würde nicht mehr sein.
Aber das, wofür er gestanden hatte, das, wofür er gestorben war, würde nicht vergessen werden.
Thrall warf den Kopf zurück und brüllte einen tiefen Schrei. Einer nach dem anderen schloss sich ihm an, und bald schrien alle Orks ihren Schmerz und ihre Leidenschaft hinaus. Wenn es tatsächlich Geister der Vorfahren gab, dann mussten selbst sie von der Lautstärke dieses Klagens beeindruckt sein, das sich um Orgrim Doomhammer erhob.
Nachdem das Ritual vorüber war, setzte sich Thrall schwer neben Drek’Thar und Hellscream. Auch Hellscream hatte Verletzungen erlitten, die er wie Thrall für den Augenblick stoisch ertrug. Drek’Thar war es ausdrücklich verboten worden, sich auch nur in die Nähe der Kämpfe zu begeben, doch er diente treu und gut, indem er die Verwundeten versorgte. Wenn Thrall irgendetwas geschah, dann war Drek’Thar der einzige Schamane der Horde, ein viel zu wertvoller Schatz, als dass man riskieren durfte, ihn zu verlieren. Doch er war noch nicht so alt, dass dieser Befehl ihn nicht geärgert hätte.
»Welches Lager ist als nächstes an der Reihe, mein Kriegshäuptling?«, fragte Hellscream respektvoll. Thrall zuckte bei dem Titel zusammen. Er hatte sich noch immer nicht ganz an die Tatsache gewöhnt, dass Doomhammer fort war, dass er jetzt den Befehl über Hunderte von Orks hatte.
»Keine Lager mehr«, sagte er. »Unsere Streitmacht ist für den Augenblick stark genug.«
Drek’Thar runzelte die Stirn. »Sie leiden«, sagte er.
»Das tun sie«, stimmte Thrall ihm zu, »aber ich habe einen Plan, der sie alle auf einen Schlag befreien kann. Um das Monster zu töten, musst du ihm den Kopf abschneiden, nicht nur seine Hände und Füße. Es ist an der Zeit, dass wir den Lagern den Kopf abschneiden.«
Seine Augen glitzerten im Licht des Feuers. »Wir werden Durnholde stürmen.«
Als er seinen Truppen am nächsten Morgen den Plan verkündete, begrüßte ihn großer Jubel. Sie waren jetzt bereit, den Sitz der Macht anzugreifen. Thrall und Drek’Thar standen die Elemente zur Seite, die bereit waren, ihnen zu helfen. Die Orks fühlten sich durch die Schlacht der letzten Nacht wiederbelebt. Nur wenige waren gefallen, wenn auch einer von ihnen der größte Krieger von allen gewesen war, und viele Feinde lagen jetzt tot um die verfluchten Ruinen des Lagers verstreut. Die Raben, die in der Luft kreisten, waren dankbar für das Festmahl.
Sie waren noch mehrere Tagesmärsche von der Festung des Feindes entfernt, aber die Vorräte waren reichlich, und die Stimmung war gut. Als die Sonne ganz am Himmel aufgegangen war, bewegte sich die Ork-Horde unter ihrem neuen Führer Thrall festen Schrittes und entschlossen auf Durnholde zu.
»Natürlich habe ich ihm nichts verraten«, erklärte Langston und nippte an Blackmoores Wein. »Er nahm mich gefangen und folterte mich, aber ich habe den Mund gehalten, das kann ich Euch sagen. Aus Bewunderung ließ er mich und meine Männer ziehen.«
Insgeheim bezweifelte Blackmoore diese Geschichte, aber er sagte nichts. »Erzähl mir mehr von diesen Wundern, die er vollbringt«, bat er.
Glücklich, die Gunst seines Mentors zurückgewonnen zu haben, spann Langston eine fantastische Geschichte über Wurzeln, die seinen Körper fesselten, Blitze, die auf Kommando einschlugen, gut trainierte Pferde, die ihre Reiter im Stich ließen, und die Erde selbst, die eine Mauer zerschmetterte. Hätte Blackmoore nicht bereits ähnliche Geschichten von den wenigen Männern, die zurückgekehrt waren, gehört, er hätte wahrscheinlich angenommen, dass Langston der Flasche sogar noch stärker zusprach als er selbst.
»Ich war auf dem richtigen Weg, als ich Thrall an mich nahm«, sinnierte Blackmoore und nahm einen weiteren Schluck Wein. »Du siehst, was er ist, was er aus diesem jämmerlichen Haufen gebrochener, mutloser Grünhäute gemacht hat.«
Es bereitete ihm geradezu körperliche Pein, wenn er daran dachte, wie nahe er daran gewesen war, diese offensichtlich mächtige neue Horde zu kontrollieren. Direkt darauf folgte ein Bild in seinem Geist von Taretha und den Briefen der Freundschaft, die sie an seinen Sklaven geschrieben hatte. Wie stets stieg in ihm bei diesem Gedanken eine Wut auf, die mit einem seltsamen scharfen Schmerz gemischt war. Er hatte sie in Ruhe gelassen, hatte sie nie wissen lassen, dass er die Briefe gefunden hatte. Er erzählte nicht einmal Langston davon und war jetzt zutiefst dankbar für seine eigene Weisheit bei dieser Entscheidung. Er glaubte, dass Langston Thrall wahrscheinlich alles berichtet hatte, was er wusste. Und das machte eine Änderung des Plans erforderlich.
»Ich fürchte, dass andere angesichts der Folter der Orks nicht so standhaft waren wie du, mein Freund«, sagte er und versuchte, den Sarkasmus aus seiner Stimme zu verbannen, doch es gelang ihm nicht völlig. Glücklicherweise hatte Langston bereits so viel getrunken, dass er es nicht zu bemerken schien. »Wir müssen annehmen, dass die Orks alles wissen, was wir wissen, und dementsprechend handeln. Wir müssen versuchen zu denken wie Thrall. Was würde er als nächstes tun? Was ist sein Endziel?«
Und wie bei allen Höllen, die es gibt, kann ich einen Weg finden, ihn zurückzugewinnen?
Obwohl er eine Armee von fast zweitausend Leuten anführte und man sie mit hoher Wahrscheinlichkeit entdecken würde, tat Thrall alles in seiner Macht Stehende, um den Marsch der Horde zu verbergen. Er bat die Erde, ihre Abdrücke zu bedecken, und die Luft, ihren Geruch von jedem Tier fortzutragen, das sie wittern und Alarm schlagen könnte. Es war wenig, aber jedes Quäntchen half.
Er schlug das Lager mehrere Meilen südlich von Durnholde auf, in einem wilden und allgemein gemiedenen Wald. Zusammen mit zwei Kundschaftern begab er sich zu einem bestimmten Waldstück direkt vor der Festung. Hellscream und Drek’Thar hatten versucht, ihm dies auszureden, aber er bestand darauf.
»Ich habe eine Plan«, sagte er, »einen, der uns in die Lage versetzen könnte, unsere Ziele zu erreichen, ohne dass auf beiden Seiten unnötig Blut vergossen wird.«
18
Selbst in den kältesten Tagen des Winters – bis auf den schweren Schneesturm, der jeden davon abgehalten hatte, Durnholde zu verlassen – hatte Taretha immer wieder den vom Blitz gefällten Baum besucht. Und jedes Mal, wenn sie in die schwarzen Tiefen des Baumes blickte, war dort nichts gewesen.
Sie genoss die Rückkehr des wärmeren Wetters, obwohl die vom geschmolzenen Schnee durchweichte Erde an ihren Stiefeln saugte und es dem Schlamm mitunter gelang, Taretha einen von ihnen auszuziehen. Aber den Stiefel befreien und ihn wieder über ihren Fuß streifen zu müssen, war ein geringer Preis für die frischen Gerüche des erwachenden Waldes, die Schächte hellen Sonnenlichts, die die Schatten aufbrachen, und das erstaunliche Farbenmeer, das die Wiesen und den Waldboden sprenkelte.