Thrall marschierte unbeeindruckt weiter. Es entstand mehr Bewegung auf den Mauern, dort, direkt über dem großen, hölzernen Tor, und sein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Es war Aedelas Blackmoore. Thrall blieb stehen. Sie waren jetzt nahe genug, um sich durch Rufe zu verständigen. Er würde sich nicht weiter nähern.
»Das ist ja schön«, erklang eine schwerzüngige Stimme, an die sich Thrall nur zu gut erinnerte. »Wenn das nicht mein kleiner Haus-Ork ist. Scheint inzwischen ausgewachsen zu sein.«
Thrall ließ sich nicht provozieren. »Ich grüße Euch, Generalleutnant«, sagte er. »Aber ich komme nicht als Euer Haustier, sondern als Anführer einer Armee, die Eure Männer schon in der Vergangenheit vernichtend geschlagen hat. Doch ich werde heute nicht angreifen, es sei denn, ihr zwingt mich dazu.«
Langston stand neben seinem Herrn an der Brustwehr. Er konnte es einfach nicht glauben. Blackmoore war stockbetrunken. Langston, der Tammis häufiger geholfen hatte, seinen Herrn ins Bett zu bringen, als er zugeben wollte, hatte Blackmoore noch nie so sturzbetrunken und dabei doch noch fähig zu stehen gesehen. Was hatte er sich dabei gedacht?
Blackmoore hatte das Mädchen natürlich verfolgen lassen. Ein Kundschafter mit scharfen Augen, der sich meisterhaft verbergen konnte, hatte die Tür im Kurierstall entriegelt, damit sie aus dem geheimen Stollen hatte steigen können. Er hatte sie beobachtet, wie sie Thrall und ein paar andere Orks traf. Und er hatte gesehen, wie sie ihm einen Sack mit Essen übergab, wie sie das Monster umarmte – beim Licht! – und dann durch den nicht länger geheimen Tunnel zurückgekehrt war. Blackmoore täuschte gestern Nacht seine Trunkenheit nur vor und war vollkommen nüchtern, als das ahnungslose Mädchen in seinem Schlafzimmer erschien, um von Blackmoore, Langston und den anderen in Empfang genommen zu werden.
Taretha wollte zuerst nicht sprechen, aber sobald sie erfuhr, dass man ihr gefolgt war, versicherte sie Blackmoore eilig, dass Thrall gekommen sei, um über den Frieden zu verhandeln. Allein den Gedanken empfand Blackmoore als eine tiefe Beleidigung. Er entließ Langston und die anderen Wachen. Langston ging noch lange vor der Tür auf und ab und hörte Blackmoore fluchen. Manchmal ließ sich das Geräusch einer Hand vernehmen, die auf Fleisch schlägt.
Er hatte Blackmoore bis zum jetzigen Moment nicht wiedergesehen, aber Tammis hatte ihm berichtet. Blackmoore hatte seine schnellsten Reiter ausgesandt, um Verstärkung zu rufen, aber die befand sich immer noch mindestens vier Stunden entfernt. Die logische Vorgehensweise wäre es gewesen, den Parlamentär – Thrall! – in Gespräche zu verwickeln, bis Hilfe eintraf. Die Etikette verlangte es, dass Blackmoore eine kleine Schar seiner eigenen Leute aussandte, um mit den Orks zu sprechen. Sicher würde Blackmoore jeden Augenblick den Befehl dazu geben. Das war einfach nur logisch. Wenn die Zählungen stimmten – und davon war Langston überzeugt –, befehligte Thrall eine zweitausendköpfige Armee.
Es gab fünfhundertvierzig Mann in Durnholde, von denen weniger als vierhundert ausgebildete Krieger mit Kampferfahrung waren.
Während er die Lage mit steigender Nervosität überdachte, erkannte Langston Bewegung am Horizont. Sie waren zu weit entfernt, als dass er Einzelheiten hätte ausmachen können, aber er konnte klar erkennen, wie sich ein gewaltiges grünes Meer langsam über die Anhöhe schob, begleitet vom steten, zermürbende Schlagen der Trommeln.
Thralls Armee.
Obwohl es ein kühler Morgen war, fühlte Langston wie ihm der Schweiß ausbrach.
»Dassis nett, Thrall«, lallte Blackmoore. Thrall beobachtete angewidert wie der frühere Kriegsheld schwankte und sich an der Mauer festhalten musste. »Was möches du?«
Wieder kämpfte das Mitleid in seinem Herzen mit dem Hass. »Wir wollen nicht länger gegen die Menschen kämpfen, es sei denn, man zwingt uns dazu, uns zu verteidigen. Aber Ihr haltet in Euren abscheulichen Lagern viele hundert Orks gefangen, Blackmoore, und sie werden auf die eine oder andere Art befreit werden. Wir können es ohne weiteres Blutvergießen tun. Wenn Ihr alle Orks, die in den Lagern gefangen gehalten werden, frei lasst, kehren wir in die Wildnis zurück und lassen die Menschen in Frieden.«
Blackmoore warf den Kopf zurück und lachte. »Oh!«, keuchte er und wischte sich Tränen der Heiterkeit aus den Augen. »Oh, du bisst besser als … als der Hofnarr des Königs, Thrall. Sklave. Ich schwör’s, du bist noch unterhaltsamer geworrn als damals im Gladiatorenring. Hör dich an! Sprichst ganze Sätze, beim Licht! Glaubst, du verstündest es, Gnade walten zu lassen, wie?« Langston fühlte, wie ihn jemand am Ärmel zupfte. Er schrak zusammen, und als er sich umwandte, sah er den Sergeant. »Ich empfinde keine große Liebe für Euch, Langston«, knurrte der Mann mit den harten Augen, »aber wenigsten seid Ihr nüchtern. Ihr müsst Blackmoore zum Schweigen bringen! Holt ihn da runter! Ihr habt gesehen, wie stark die Orks sind!«
»Wir können auf gar keinen Fall kapitulieren«, erklärte Langston, obwohl er es in seinem tiefsten Herzen wollte.
»Nein«, sagte der Sergeant, »aber wir sollten wenigstens Männer ausschicken, um mit ihnen zu sprechen, und uns etwas Zeit erkaufen, bis die Verstärkung eintrifft. Er hat nach Verstärkung geschickt, nicht wahr?«
»Natürlich hat er das«, zischte Langston. Ihr Gespräch war bemerkt worden, und Blackmoore wandte sich ihnen mit blutunterlaufenen Augen zu. Ein kleiner Sack lag zu seinen Füßen, und er stolperte fast darüber.
»Ah, der Sergeant!«, dröhnte er und torkelte auf ihn zu. »Thrall! Hier iss ein alter Freund!«
Thrall seufzte. Langston fand, dass der Ork von ihnen allen am gefasstesten wirkte. »Es tut mir Leid, dass Ihr noch immer hier seid, Sergeant.«
»Mir auch«, hörte Langston den Offizier murmeln. Lauter sagte er: »Du bist lange fort gewesen, Thrall.«
»Überzeugt Blackmoore, die Orks frei zu lassen, und ich schwöre bei der Ehre, die Ihr mich gelehrt habt, dass keine dieser Mauern vernichtet wird.«
»Mylord«, sagte Langston nervös, »Ihr erinnert euch, welche Kräfte er in der letzten Schlacht bewiesen hat. Thrall hatte mich, und er ließ mich gehen. Er hielt sein Wort. Ich weiß, er ist nur ein Ork, aber …«
»Hörssu das, Thrall?« brüllte Blackmoore. »Du bist nur ein Ork! Sogar der Idiot Langston sagt das! Was fürn Mensch ergibt sich 'nem Ork?« Er lehnte sich über die Mauer.
»Warum hast du das getan, Thrall?« schrie er hinab. »Ich hab dir alles gegeb’n! Du und ich, wir hätt’n deine Grünhäute gegen die verdammte Allianz geführt. Wir hätt’n mehr Reichtum und Macht besessen, als wir’s uns jemals hätt’n erträumen könn’!«
Langston starrte ihn entsetzt an. Blackmoore schrie seinen Verrat heraus, und alle konnten es hören. Zumindest hatte er Langston nicht belastet … noch nicht. Langston wünschte sich, er hätte den Mut besessen, Blackmoore einfach über die Mauer zu stoßen und Thrall die Festung ohne weiteres Zögern zu übergeben.
Thrall griff die Gelegenheit beim Schopf. »Hört ihr das, Männer von Durnholde?«, brüllte er. »Euer Lord wollte euch alle verraten! Erhebt euch gegen ihn! Schafft ihn fort und ergebt euch uns, und am Ende dieses Tages habt ihr immer noch euer Leben und eure Festung!«
Aber es gab keine plötzlich Rebellion, und Thrall konnte es sogar verstehen. »Ich frage Euch ein weiteres Mal, Blackmoore. Wollt Ihr verhandeln – oder sterben?«
Blackmoore richtete sich zu voller Größe auf. Thrall sah jetzt, dass er etwas in der rechten Hand hielt. Es war ein Sack.
»Hier iss meine Antwort, Thrall!«
Er griff in den Sack und zog etwas heraus. Thrall konnte nicht sehen, was es war, aber er erkannte, dass Sergeant und Langston entsetzt zurückfuhren. Dann schleuderte Blackmoore das Ding zu ihm hinab. Es fiel auf den Boden und rollte Thrall vor die Füße.