»Gute Auge-Hand-Koordination«, sagte er. Wie die anderen Männer trug er einen Schild und eine schwere, gut gepolsterte Rüstung, die Körper und Kopf schützte. Thrall besaß nichts dergleichen. Seine Haut war so dick, dass er die Schläge ohnehin kaum spürte, und er wuchs so schnell, dass jede Kleidung oder Rüstung, die man ihm anpasste, bald wieder zu klein wurde.
»Dann wollen wir mal sehen, wie du dich verteidigst.« Ohne weitere Warnung griff Sergeant Thrall an.
Für eine Sekunde zuckte Thrall zurück, doch dann schien in seinem Inneren etwas an den rechten Platz zu rücken. Er bewegte sich nicht mehr ängstlich und verwirrt, sondern mit Selbstvertrauen. Er stand gerade, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und realisierte erst in diesem Augenblick, wie schnell er eigentlich wuchs – er überragte bereits seinen Gegner.
Er hob den linken Arm, von dem er wusste, dass er eines Tages einen Schild halten würde, der schwerer als ein Mensch war, verteidigte sich damit gegen das Holzschwert und bewegte seine eigene Übungswaffe in einem eleganten Halbbogen.
Wenn Sergeant nicht mit verblüffender Schnelligkeit reagiert hätte, wäre Thralls Schwert gegen seinen Helm geprallt. Trotz dieses Schutzes aber war die Kraft, die hinter dem Schlag steckte, so groß, dass der Ork Sergeant vermutlich getötet hätte. Aber Sergeant war unglaublich behände, und sein Schild blockte Thralls sonst tödlich geführten Hieb ab. Thrall grunzte überrascht, als Sergeant ihn mit dem selbst geführten Streich am nackten Bauch traf. Er stolperte und verlor kurz das Gleichgewicht.
Sergeant nutzte die Gelegenheit und stieß vor. Seine drei kurzen Schläge hätten einen ungeschützten Mann getötet. Thrall gewann sein Gleichgewicht zurück und spürte, wie ihn ein seltsames heißes Gefühl durchfuhr. Plötzlich verengte sich seine Welt, bis er nur noch den Mann vor sich sah. All seine Frustration und Hilflosigkeit verschwand und wurde ersetzt von einem scharf fokussierten Wunsch: Töte Sergeant!
Er schrie laut auf – die Macht seiner eigenen Stimme überraschte ihn dabei selbst – und griff an. Er hob die Waffe und schlug zu, hob und schlug, deckte den Hünen von einem Menschen mit Schlägen ein.
Sergeant versuchte sich zurückzuziehen, rutschte jedoch auf einem Steinboden aus und fiel nach hinten. Thrall schrie erneut, als der innige Wunsch, Sergeants Kopf zu zermalmen, wie eine heiße Flut in ihm aufstieg. Sergeant gelang es, sein Schwert vor sich zu bringen und die meisten Schläge abzuwehren, aber nun lag er eingezwängt unter Thralls säulenartigen Beinen. Thrall warf sein Schwert zur Seite und streckte seine großen Pranken aus. Wenn er sie nur um Blackmoores Hals hätte legen können …
Thrall erstarrte, war entsetzt über das Bild, das vor seinem geistigen Auge stand. Seine Finger befanden sich nur Zentimeter von Sergeants Kehle entfernt. Sie war zwar durch eine Halsberge geschützt, aber Thralls Finger waren stark. Wenn er zugedrückt hätte …
Und dann waren mehrere Männer über ihm, brüllten ihn an und zerrten ihn vom reglosen Körper des Ausbilders weg. Thrall lag plötzlich auf dem Rücken und musste die Arme heben, um die Schläge mehrerer Schwertattrappen abzuwehren. Er hörte ein seltsames Geräusch, ein Singen, und sah etwas Metallisches in der Sonne aufblitzen.
»Halt!«, schrie Sergeant. Seine Stimme war so laut und gebieterisch, als sei er nicht gerade noch Zentimeter vom Tod entfernt gewesen. »Verdammt noch mal, halt! Oder ich schneide deinen verfluchten Arm ab! Steck dein Schwert sofort weg, Maridan!«
Thrall hörte ein Klicken. Dann wurde er gepackt und auf die Beine gestellt. Er blickte Sergeant an.
Zu seiner völligen Überraschung begann Sergeant zu lachen. Er schlug dem Ork auf die Schulter. »Gut gemacht, Junge. Ich war noch nie so dicht davor, meinen Ohrring zu verlieren – und das schon beim ersten Kampf. Du bist der geborene Krieger, aber du hast wohl das Ziel aus den Augen verloren, oder?« Er zeigte auf den goldenen Ohrring. »Das war das Ziel, nicht das Leben aus mir herauszupressen.«
Thrall versuchte zu sprechen. »Es tut mir Leid, Sergeant. Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist. Ihr habt angegriffen, und dann …« Das Bild, das kurz in Zusammenhang mit Blackmoore in ihm aufgestiegen war, ließ er unerwähnt. Es war schlimm genug, dass er den Kopf verloren hatte.
»Bei manchen Feinden hättest du richtig gehandelt«, sagte Sergeant überraschend. »Gute Taktik. Aber bei anderen Gegnern, so wie bei allen Menschen, die dir entgegentreten, reicht es, sie zu Boden zu werfen und es zu beenden. Hör an diesem Punkt auf. In einem echten Kampf kann die Blutgier vielleicht deine Haut retten, aber bei Gladiatorenkämpfen musst du hiermit …« Er tippte sich gegen die Stirn. »… arbeiten und nicht hiermit.« Er berührte seinen Bauch. »Ich möchte, dass du ein paar Bücher über Strategie liest. Du kannst doch lesen, oder?«
»Ein wenig«, brachte Thrall hervor.
»Du musst dir die Gesetzmäßigkeiten einer Schlacht verinnerlichen. Diese Anfänger kennen sie alle.« Er zeigte auf die anderen Rekruten. »Eine Zeitlang wird das ihr Vorteil sein.« Er drehte sich um und blickte sie streng an. »Aber nicht lange, meine Herren. Der hier hat Mut und Stärke, dabei ist er noch ein Kind …«
Die Männer warfen Thrall feindselige Blicke zu. Thrall spürte eine plötzliche Wärme, ein Glücksgefühl, das er noch nie erlebt hatte. Er hatte beinahe einen Mann getötet, war dafür aber nicht bestraft worden. Stattdessen hatte man ihm gesagt, dass er lernen müsse, um sich weiter zu verbessern und um zu verstehen, wann er den Tod des Gegners suchen musste und wann er …was zeigen sollte? Wie nannte man es, wenn man das Leben eines Gegners verschonte?
»Sergeant?«, fragte er und hoffte, er würde für diese Frage nicht bestraft werden. »Manchmal … nun, Ihr sagtet, manchmal solle man nicht töten … Warum nicht?«
Sergeant sah ihn an. »Man nennt es Gnade, Thrall«, antwortete er ruhig. »Und auch das wirst du lernen.«
Gnade. Lautlos wiederholte Thrall das Wort und ließ es über seine Zunge rollen. Es war ein schönes Wort, es gefiel ihm.
»Du hast ihn das mit dir machen lassen?« Obwohl Tammis dieser speziellen Unterhaltung zwischen seinem Herrn und dem Mann, den er angeheuert hatte, um Thrall auszubilden, nicht unmittelbar beiwohnen durfte, drang Blackmoores schrille Stimme bis zu ihm vor. Tammis hörte auf, den Lehm von Blackmoores Stiefeln zu wischen und beugte sich vor, um angestrengter zu lauschen. Obwohl … er sah es nicht als Lauschen an, sondern als einen wichtigen Beitrag, um das Wohlergehen seiner Familie zu schützen.
»Es war eine gute Kampftaktik.« Sergeant Irgendwie klang nicht, als würde er sich rechtfertigen. »Also ging ich damit um, wie mit dem Angriff jedes anderen Mannes.«
»Aber Thrall ist kein Mann, er ist ein Ork! Oder ist dir das nicht aufgefallen?«
»Doch, das ist es«, erwiderte der Sergeant. Tammis bewegte sich, bis er durch die halb geschlossene Tür spähen konnte. Sergeant passte nicht so recht in Blackmoores üppig dekoriertes Empfangszimmer. »Und mir steht die Frage nicht zu, weshalb Ihr ihn so umfassend ausbilden lasst.«
»Da hast du Recht.«
»Aber Ihr wollt, dass er umfassend ausgebildet wird«, sagte der Sergeant, »und genau das tue ich.«
»Indem du dich fast von ihm umbringen lässt?«
»Indem ich eine gute Taktik lobe, und indem ich ihm beibringe, wann seine Blutgier gut ist, und wann er einen kühlen Kopf bewahren muss«, grollte der Sergeant.
Tammis unterdrückte ein Lächeln. Scheinbar fiel es dem Sergeant schwer, seinen eigenen Rat zu befolgen und Ruhe im passenden Augenblick zu bewahren.
»Aber deshalb komme ich nicht zu Euch. Man hat mir gesagt, Ihr hättet ihm das Lesen beigebracht. Ich möchte, dass er sich ein paar Bücher ansieht.«
Tammis starrte ihn an.