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Selbst als der Winter kam, konnte er nur unter Stammeln reden. Der Meister behielt ihn bei sich in der Heilklinik und versuchte, Geds Körper und Geist langsam wieder erstarken zu lassen. Erst im Frühjahr darauf entließ er ihn und trug ihm auf, zuallererst zu dem Erzmagier zu gehen und ihm den Treueeid zu leisten. Dieser Pflicht hatte er nicht mit den andern nachkommen können, damals, als Genscher nach Rok kam.

Keiner seiner Mitschüler hatte ihn während der langen Monate seiner Krankheit besuchen dürfen. Als er jetzt an einigen Schülern vorbeikam, tuschelten sie sich gegenseitig zu: »Wer ist das?« Er war behende, gewandt und stark gewesen, jetzt ging er gekrümmt vor Schmerzen, zögernd und langsam und hielt sein Gesicht, das auf der linken Seite von tiefen weißen Narben bedeckt war, gesenkt. Er vermied die, die ihn kannten, und die, die ihn nicht kannten, und ging geradewegs zum Erzmagier. Dort, wo ihn einst Nemmerle erwartet hatte, stand nun Genscher und wartete auf ihn.

Wie der frühere Erzmagier, so trug auch Genscher einen weißen Umhang; aber wie bei den meisten Leute auf Weg und in den Ostbereichen war seine Haut schwarzbraun, und er blickte Ged unter dunklen, dichten Brauen hervor an.

Ged kniete vor ihm nieder, bereit, ihm Gehorsam und Treue zu schwören. Genscher stand eine Weile, ohne zu reden.

»Ich weiß, was du getan hast«, sagte er schließlich, »aber dich selbst kenne ich nicht. Ich kann deinen Eid nicht annehmen.«

Ged stand wieder auf und hielt sich am Stamm des jungen Baumes fest, um nicht umzufallen. Er suchte lange nach Worten: »Muß ich Rok verlassen?«

»Willst du Rok verlassen?«

»Nein.«

»Was willst du?«

»Hierbleiben… lernen… das Böse zu entkräften…«

»Selbst Nemmerle konnte das nicht tun. Nein, ich hätte dich nicht weggehen lassen. Schutzlos wärest du, denn nur die Macht der Meister und die Befestigungen dieser Insel hier, die jeder Ausgeburt des Bösen den Zutritt verweigern, gewähren dir Sicherheit. Würdest du uns jetzt verlassen, das Ding, das du freigesetzt hast, würde dich finden und sich in dir festsetzen und dich besitzen. Kein Mensch wärest du mehr, sondern ein Cebbeth, eine Marionette, die williges Werkzeug des Bösen wäre, das du ans Licht des Tages gebracht hast. Hier mußt du bleiben, bis du stark und weise genug bist, dich selbst dagegen zu wehren — wenn es je sein muß. Selbst jetzt wartet es auf dich. Ich bin ganz sicher, daß es auf dich wartet. Hast du es seit jener Nacht wiedergesehen?«

»In Träumen nur.« Ged verstummte. Dann, mit Schmerz und Scham in seiner Stimme, fügte er hinzu: »Ehrwürdiger Herr Genscher, ich weiß nicht, was es war — das Ding, das der Bann freigesetzt hat und das mich packte.«

»Auch ich weiß es nicht. Es hat keinen Namen. Eine große Macht liegt in dir. Sie ist dir angeboren. Diese Macht hast du mißbraucht, du hast einen Zauber gewirkt, für den du noch nicht reif genug warst, denn du hast noch nicht begriffen, wie dieser Zauber das Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkel, zwischen Leben und Tod, zwischen Gut und Böse stören kann. Und du hast es getan, weil dich Stolz und Haß dazu trieben. Wunderst du dich über das Unheil, das es nach sich zog? Du hast den Geist einer Toten zu dir gerufen, und mit ihm kam ein Etwas von den Mächten, die außerhalb des Lebens bestehen. Es kam ungerufen von dort her, wo die Dinge keinen Namen haben. Aus Bösem bestehend, ist sein Ziel, Böses durch dich zu wirken. Die Macht, die du besitzt, es zu dir zu rufen, gibt ihm gleichzeitig Macht über dich! Du bist mit ihm verbunden. Es ist der Schatten deiner Arroganz, deiner Unwissenheit, der Schatten, den du wirfst. Besitzt ein Schatten einen Namen?«

Ged fühlte sich elend und erschöpft. Endlich sagte er: »Es wäre besser gewesen, ich wäre gestorben.«

»Wer gibt dir das Recht, darüber zu urteilen, du, für den Nemmerle sein Leben ließ? — Hier bist du sicher. Hier kannst du wohnen und deine Studien fortsetzen. Ich habe gehört, daß du ein guter Schüler warst. Geh und tu deine Arbeit. Tu sie gut. Mehr kannst du nicht verlangen.«

Genscher verstummte und war plötzlich verschwunden, wie es unter Magiern üblich ist. Ged sah dem Wasserstrahl des Brunnens zu, wie er im Sonnenschein aufstieg und wieder hinunterfiel, und er lauschte seinen Worten. Er dachte an Nemmerle. Hier hatte er einst gestanden, und es war ihm gewesen, als sei er ein von der Sonne gesprochenes Wort. Jetzt hatte die Dunkelheit zu ihm gesprochen, ein Wort, das nie mehr rückgängig gemacht werden konnte.

Er verließ den Hof und kehrte in sein altes Zimmer im Südturm zurück, das sie ihm freigelassen hatten. Dort blieb er allein. Als der Gong zum Essen rief, ging er hinunter und setzte sich ganz unten an den Langtisch. Er sprach kaum zu den andern und hielt sein Gesicht gesenkt, selbst die Jungen, die ihn freundlichst begrüßten, blickte er kaum an. Nach ein paar Tagen ließ man ihn in Ruhe. Er wollte allein sein, denn er fürchtete das Unheil, das er durch Wort oder Tat anrichten konnte.

Vetsch und Jasper waren beide nicht anwesend, und er fragte nicht nach ihnen. Die Jungen, die er früher angeführt hatte und auf die er herabgeblickt hatte, waren ihm jetzt voraus wegen der Monate, die er auf dem Krankenlager verloren hatte. Er mußte jetzt mit Burschen zusammen lernen, die jünger waren als er. Seine Leistungen waren auch nicht mehr hervorragend, denn die Worte der Sprüche und Formeln, selbst die des einfachsten Illusionszaubers, kamen nur stockend über seine Lippen, und seine Hände waren ungeschickt.

Im Herbst mußte er wieder zum Einsamen Turm gehen und mit dem Meister Namengeber studieren. Das Studium, dem er einst mit Widerwillen entgegengesehen hatte, begrüßte er jetzt. Dort würde er die Einsamkeit und Stille finden, nach der ihn jetzt verlangte. Auch das endlose Auswendiglernen war ihm nun recht, es war ihm jedenfalls lieber als das Wirken von Zaubereien, welche die Macht, die er noch in sich schlummern fühlte, wieder wachrufen könnten.

Am Abend vor seinem Abmarsch zum Turm kam ein Besucher in braunem Reiseumhang mit eisenbeschlagenem Eichenstab zu ihm. Ged erhob sich vor dem Abzeichen des Zauberers.

»Sperber…«

Beim Klang der Stimme hob Ged den Blick. Vetsch stand vor ihm, kräftig und solid wie eh, sein dunkles, offenes Gesicht sah gereifter aus, aber sein Lachen war unverändert. Auf seiner Schulter hockte ein kleines Tier mit getigertem Fell und blanken Augen.

»Ich behielt ihn, während du krank warst, und jetzt tutʹs mir leid, mich von ihm zu trennen. Aber es tut mir noch mehr leid, dich zu verlassen, Sperber. Ich gehe nach Hause. Hier, Hög! Geh wieder zu deinem wahren Herrn!« Vetsch streichelte den Otak und setzte ihn auf den Boden. Dieser sprang auf Geds Matratze und begann, sich mit seiner trockenen, braunen Zunge, die wie ein kleines Blatt aussah, zu putzen. Vetsch lachte, aber Ged konnte nicht mit einstimmen. Er beugte sich hinunter, um sein Gesicht zu verbergen, und streichelte den Otak. »Ich habe geglaubt, du würdest nie mehr zu mir kommen, Vetsch«, sagte er.

Er hatte keinen Vorwurf beabsichtigt, aber Vetsch antwortete: »Ich konnte nicht kommen. Der Kräutermeister hat mich nicht zu dir gelassen, und den Winter über war ich selbst eingeschlossen beim Meister vom Immanenten Hain. Er ließ mich erst wieder heraus, nachdem ich mir den Stab verdient hatte. Hör zu: Wenn du hier fertig bist und frei wirst, dann komm in den Osten. Ich warte auf dich. In den kleinen Städten dort läßt sichʹs gut sein. Zauberer genießen ein hohes Ansehen.«