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»Frei…«, sagte Ged leise und versuchte zu lächeln, während er leicht die Achseln zuckte.

Vetsch schaute ihn an. Sein Blick war nicht mehr ganz so wie früher, er war bestimmt nicht weniger liebevoll, aber jetzt lag etwas Zauberisches darin. Seine Stimme klang herzlich: »Du wirst nicht dein ganzes Leben lang an Rok gebunden sein.«

»Weißt du… ich habe gedacht, daß ich vielleicht bei dem Meister im Turm Forschung treiben sollte, wie die, die in den Büchern und Sternen nach verlorenen Namen suchen. Wenn ich das tue, weißt du, dann… dann kann ich keinen Schaden mehr anrichten, viel Gutes natürlich auch nicht…«

»Vielleicht hast du recht«, sagte Vetsch. »Ich bin kein Prophet, aber ich sehe in deiner Zukunft keine Zimmer voll von Büchern, wohl aber das weite Meer und feuerspeiende Drachen und die Türme vieler Städte, so wie es nur ein Falke sieht, der hoch und weit fliegt.«

»Und hinter mir — sag, was siehst du hinter mir?« fragte Ged und erhob sich bei diesen Worten, worauf das Werlicht, das zwischen ihnen über ihren Köpfen schwebte, seinen Schatten gegen Boden und Wand warf. Dann wandte er sich zur Seite und stammelte: »Erzähl mir von dir, wohin du gehst und was du vorhast.«

»Ich gehe heim zu meinen Brüdern und zu meiner Schwester, von der ich dir erzählte. Als ich fortging, war sie noch ein kleines Kind, jetzt wird man ihr bald ihren Namen geben — ich kann es kaum glauben! Irgendwo auf einer der kleinen Inseln werde ich dann als Zauberer arbeiten. Oh, Ged, ich würde gerne hierbleiben und mit dir schwätzen, aber ich kann nicht, mein Schiff segelt heute abend, und die Ebbe hat schon begonnen. Sperber, wenn du je in den Osten kommst, besuche mich. Und wenn du je in Bedrängnis gerätst, laß es mich wissen, ruf mich bei meinem Namen: Estarriol.«

Bei diesen Worten hob Ged sein vernarbtes Gesicht, und ihre Augen trafen sich. »Estarriol«, sagte er, »ich heiße Ged.«

Dann verabschiedeten sie sich voneinander, und Vetsch ging den steinernen Gang hinunter und verließ Rok.

Ged blieb eine Weile bewegungslos sitzen, wie einer, der eine Botschaft empfing, die so überwältigend war, daß er sie nicht auf einmal fassen konnte. Das Wissen von Vetschens wahrem Namen war ein großes Geschenk.

Der wahre Name eines Menschen ist nur ihm und seinem Namengeber bekannt. Später vielleicht sagt er ihn seinem Bruder, seiner Frau oder einem Freund, aber selbst diese wenigen werden nie seinen wahren Namen nennen, wenn ein Dritter anwesend ist. Sind andere zugegen, so werden sie, wie alle Welt es tut, ihn bei seinem Ruf- oder Spitznamen nennen — Namen wie Sperber, Vetsch oder Ogion, was übrigens »Tannenzapfen« bedeutet. Wenn der einfache Mensch vorsichtig sein muß und seinen Namen nur wenigen Vertrauten mitteilen kann, um wieviel vorsichtiger muß der Zauberkundige sein, der viel gefährlicher und selbst viel gefährdeter ist. Derjenige, der den wahren Namen eines Menschen kennt, hält dessen Leben in seiner Hand. Daher empfing Ged, der den Glauben an sich selbst verloren hatte, von Vetsch eine Gabe, die nur ein Freund geben konnte: den Beweis unerschütterlichen und nicht zu erschütternden Vertrauens.

Ged setzte sich auf seine Matratze und ließ die Werlichtkugel verglimmen, die im letzten Verzischen einen schwachen Geruch von Sumpfgas von sich gab. Er streichelte den Otak, der sich gemütlich räkelte und auf seinen Knien so selbstverständlich einschlief, als wäre er nie woanders gewesen.

Im Großhaus war es ruhig. Es fiel Ged ein, daß heute der Vorabend seiner eigenen Aufnahme war. Vier Jahre waren verstrichen, seit Ogion ihm seinen Namen gegeben hatte. Er erinnerte sich an das eiskalte Bergquellwasser, durch das er damals nackt und namenlos gewatet war. Auch die anderen, hellschimmernden Flußbecken der Ar, in denen er so oft geschwommen war, fielen ihm wieder ein; er dachte an Zehnellern, das Dorf, das im Schatten des mächtigen, steilansteigenden Bergwaldes lag, an die morgendlichen Schatten auf der staubigen Dorfstraße, an das Schmiedefeuer an einem Winternachmittag, das vom Blasebalg angetrieben aus der Schmelzgrube in die Höhe loderte, an die von Kräutern duftende Hütte des Zauberweibes, in der die Luft schwer war von Rauch und Hexereien. Er hatte schon lange nicht mehr an diese Dinge gedacht. Jetzt fielen sie ihm wieder ein, heute, am Vorabend seines siebzehnten Geburtstages. In Gedanken durchmaß er die Jahre und Orte seines kurzen, gebrochenen Lebens, und sie formten eine Einheit. Endlich, nach all diesen langen, bitteren, verschwendeten Jahren wußte er, was er schon einmal gewußt hatte — wer er war und wo er war.

Aber wohin er zu gehen hatte in den Jahren, die vor ihm lagen, das konnte er nicht ermessen; und er fürchtete sich, es zu sehen.

Am nächsten Morgen begann er seine Wanderung über die Insel. Der Otak ritt auf seiner Schulter wie damals, als er vom Turm zurückkam. Dieses Mal dauerte es nicht zwei, sondern drei Tage, bis er den Einsamen Turm erreichte. Er war todmüde, als er ihn endlich erblickte, dort über der zischenden, Gischt speienden Brandung des nördlichen Vorgebirges. Innen war er so dunkel und kalt, wie er es in Erinnerung hatte. Kurremkarmerruk saß an seinem hohen Pult und schrieb an langen Namenslisten. Als Ged eintrat, blickte er kurz auf, und ohne Willkommensgruß, so als wäre Ged nie fortgewesen, sagte er: »Geh ins Bett. Müde Leute sind dumme Leute. Morgen kannst du mit dem Buch von den Handlungen der Urheber anfangen und die Namen darin lernen.«

Als der Winter vorbei war, kehrte er ins Großhaus zurück. Er wurde nun zum Zauberer befördert, und danach nahm der Erzmagier Genscher seinen Treueeid entgegen. Jetzt durfte er die hohen Künste und Zaubereien lernen, die über Illusionen hinaus in die Welt der wahren Magie einführen. Er lernte, was davon nötig war, um sich seinen Zauberstab zu verdienen. Die Schwierigkeiten, die er anfänglich im Sprechen von Zaubersprüchen gehabt hatte, ließen in den kommenden Monaten nach, auch seine Hände wurden wieder beweglicher beim Wirken von Sprüchen und Formeln. Aber seine ursprüngliche Schnelligkeit beim Lernen kehrte nie wieder zurück. Der Schrecken hatte ihm eine harte, nachhaltige Lektion erteilt. Selbst den mächtigen und höchst gefährlichen Formeln des Gestaltens und Fertigens jedoch folgten keine bedenklichen Zeichen oder Begegnungen. Manchmal wiegte er sich in der Hoffnung, daß der Schatten, den er freigesetzt hatte, geschwächt war oder irgendwie aus der Welt geflohen sei, denn er ließ ihn ganz in Ruhe, selbst seine Träume waren nicht gestört. Tief im Herzen jedoch wußte er, daß dies falsche Hoffnungen waren.

Ged fragte die Meister aus und forschte in den alten Büchern der Zauberkunde nach einem Wesen wie diesem Schatten, den er freigesetzt hatte, aber er fand sehr wenig darüber. Nirgends fand er eine Beschreibung eines solchen Dinges, nirgends wurde es direkt erwähnt. Hie und da fand er in den alten Büchern Andeutungen von Wesen, die dem Schattenungeheuer ähnlich sein konnten. Es handelte sich nicht um den Geist eines Verstorbenen, und es gehörte auch nicht zu den Urmächten der Erde, aber irgendwie schien es doch mit ihnen verbunden zu sein. In den Drachengeschichten, die Ged sehr sorgfältig las, stieß er auf eine Erzählung über einen uralten Drachenfürsten, der unter den Einfluß einer der Urmächte kam, eines sprechenden Steines, der sich hoch oben im Norden befand. »Der Stein gebot ihm«, so hieß es im Buch, »den Geist eines Toten aus dem Totenreich zu rufen. Seine Zauberkraft aber war nicht mehr lauter, denn er war dem Steine hörig, und mit dem Geiste des Toten erhob sich ein anderes, das nicht gerufen wurde, und dies andere zerstörte sein Wesen und behielt seine Gestalt, und über die Menschen brachte es großes Unheil und Leid.« Aber das Buch beschrieb nicht, was für ein Ding es war, noch wie die Geschichte endete. Auch den Meistern war unbekannt, woher solch ein Ding kommen konnte. Von Bereichen außerhalb des Lebens, hatte der Erzmagier gesagt; von der falschen Seite der Welt, sagte der Meister der Verwandlungen; und der Meister des Gebietens sagte: »Ich weiß es nicht.« Er war oft zu Ged gekommen und saß an seinem Krankenlager. Sein Blick war ernst und streng wie immer, aber Ged wußte nun, daß eine tiefe Anteilnahme dahinter verborgen war, und er war diesem Meister sehr zugetan. »Ich weiß es nicht. Das aber kann ich über dieses Ding sagen: nur eine große Macht konnte es rufen, vielleicht nur eine Macht — nur eine Stimme — deine Stimme. Was dies wiederum bedeutet, das weiß ich auch nicht. Du wirst es herausfinden. Du mußt es herausfinden oder sterben, oder noch schlimmer als sterben…« Seine Stimme war gütig, und seine Augen ruhten ernst auf Ged. »Als du jung warst, da dachtest du, daß ein Magier alles tun kann. Auch ich dachte einmal so. Wir alle dachten einmal so. Die Wahrheit sieht aber ganz anders aus. Je mehr die Macht eines Menschen wächst, je weiter sein Wissen reicht, desto enger wird der Pfad, auf dem er wandeln kann. Bis er schließlich nichts mehr wählt, sondern ausschließlich das tut, was er tun muß …«