»Haben Sie Geld?«
»Ich bin im Wind- und Wettermachen bewandert.«
»Ich bin selbst Wettermacher. Haben Sie nichts? Kein Geld?«
Die Inselleute von Untertorning zahlten Ged, so gut sie es vermochten, mit den Elfenbeinmarken, die unter den Händlern des Inselreichs in Umlauf waren. Er hatte nur zehn davon genommen, obwohl sie ihm mehr geben wollten. Diese bot er nun dem Mann von Osskil an, aber der schüttelte den Kopf. »Diese Marken benutzen wir nicht. Wenn Sie nichts anderes zu zahlen haben, kann ich Sie nicht mitnehmen.«
»Brauchen Sie noch Ruderer? Ich habe Erfahrung, ich habe schon auf einem Schiff gerudert.«
»Ja, das ginge. Uns fehlen zwei Leute. Suchen Sie sich Ihren Platz auf der Bank«, sagte der Kapitän und kümmerte sich nicht weiter um Ged.
So kam es, daß Ged, nachdem er seinen Stab und seine Bücher unter dem Sitz verstaut hatte, zehn bittere Wintertage lang Ruderer auf diesem Schiff des Nordens wurde. Bei Tagesanbruch verließen sie Orrimy, und an diesem ersten Tag war Ged fast sicher, daß er den Anstrengungen nicht gewachsen sein würde. Sein linker Arm war von den alten Wunden in seiner Schulter noch etwas gelähmt, und obwohl er viel in den Kanälen von Untertorning herumgerudert war, so konnte m an dieses Vergnügungsrudern doch kaum vergleichen mit dem anstrengenden, unaufhörlichen Ziehen an der langen Ruderstange zum gleichmäßigen Takt der Trommel. Alle zwei bis drei Stunden wurden sie von einer neuen Schicht abgelöst, aber das Ausruhen schien Ged gerade lang genug zu sein, um seine Muskeln völlig erstarren zu lassen, bevor es ans Weiterrudern ging. Der zweite Tag war fast noch schlimmer als der erste, aber dann gewöhnte er sich an die harte Arbeit, und sie fiel ihm etwas leichter.
Die Geselligkeit, die auf der Schatten die Fahrt nach Rok damals so unterhaltend gemacht hatte, fehlte auf diesem Schiff. Die Männer, die auf gontischen oder andradischen Schiffen arbeiten, sind am Gewinn beteiligt und arbeiten auf einen gemeinsamen Gewinn hin. Die Handelsschiffe von Osskil dagegen verwenden Sklaven oder Lehnsleute oder sie stellen Leute ein, denen sie ihre Löhne in kleinen Goldstücken auszahlen. Gold gilt nämlich als etwas ganz Besonderes in Osskil. Aber das Gold macht sie nicht froh, und es kommt nie eine Kameradschaftlichkeit unter ihnen auf, genausowenig wie unter den Drachen, die ja ebenso goldgierig sind. Da die Hälfte der Mannschaft aus Unfreien bestand, die zur Arbeit gezwungen wurden, waren die Vorgesetzten meist nichts anderes als Sklaventreiber, die sich keineswegs durch Milde auszeichneten. Ihre Peitschen vermieden zwar die Rücken der Leute, die für Besoldung ruderten, aber zwischen Menschen, die ausgepeitscht und solchen, die davor verschont werden, kann keine Freundschaft aufkommen. Sie redeten nur sehr wenig untereinander, und zu Ged sprachen sie überhaupt nicht. Die meisten kamen aus Osskil und sprachen kein reines Hardisch wie am Innenmeer, sondern hatten ihren eigenen Dialekt. Es waren meist mürrische Gesellen mit bleichen Gesichtern, dünnen, schwarzen Schnurrbärten und fettigem Haar. Ged nannten sie Kelub, übersetzt heißt das »der Rote«. Obwohl sie wußten, daß er ein Zauberer war, erwiesen sie ihm keinerlei Respekt, sondern waren eher auf eine heimtückische Weise gehässig. Ihm selbst lag nichts daran, Freunde zu gewinnen. Selbst wenn er auf der Bank saß und an dem gewaltigen Rhythmus des Ruderns teilnahm, einer unter sechzig, die das Schiff pfeilschnell über das öde graue Meer dahinjagten, selbst dann fühlte er sich seinem Schicksal schutzlos preisgegeben. Kamen sie abends in einen fremden Hafen, so wickelte er sich todmüde in seinen Umhang und versuchte zu schlafen, aber gequält von Träumen wachte er immer wieder auf. Es waren schlimme Träume, an die er sich, wenn er wach wurde, nicht mehr erinnern konnte, aber sie schienen mit dem Schiff und den Menschen auf dem Schiff zusammenzuhängen, so daß er jedermann gegenüber mißtrauisch war.
Die Freien auf Osskil trugen lange Messer an der Seite, und eines Tages, als Ged mit seiner Schicht zu Mittag aß, fragte ihn einer: »Was bist du, Sklave oder Eidbrüchiger?«
»Keines von beiden.«
»Warum hast du dann kein Messer? Bist du zu feige zum Kämpfen?« höhnte der Mann, der Skihor hieß.
»Nein.«
»Kämpft dein kleiner Hund für dich?«
»Otak«, sagte einer der Zuhörer, »ist nicht Hund, ist Otak.« Und er fügte etwas auf Osskilisch hinzu, worauf sich Skihors Gesicht verdunkelte und er sich zur Seite drehte. Als er sich abwandte, glaubte Ged in seinem Gesicht eine Veränderung wahrzunehmen, ein Verzerren und Verziehen der Miene, als ob etwas in ihm vor sich ginge, ihn lenke und aus seinen Augen Ged von der Seite her musterte. Aber gleich darauf sah Ged ihn wieder von vorne, und er sah genauso aus, wie er immer ausgesehen hatte, so daß Ged glaubte, seine eigene Furcht und sein eigenes Grauen in den Augen des andern gesehen zu haben. Aber in der folgenden Nacht träumte Ged wieder, und Skihor kam in diesen Träumen vor. Von nun an versuchte er, Skihor zu meiden, und es schien, als ob der sich um das Gleiche bemühte. Es kam zu keinem Wortwechsel mehr zwischen ihnen.
Die schneebedeckten, im Nebel des frühen Winters leicht verschwommenen Berge von Havnor versanken am südlichen Himmel hinter ihnen. Sie ruderten an der Mündung der Éasee vorbei, dort, wo vor vielen, vielen Jahren Elfarran ertrunken war, und sie passierten die enladische Inselgruppe. Zwei Tage verbrachten sie in Berila, der Elfenbeinstadt, die sich im Westen der sagenumwobenen Insel Enlad weißschimmernd über die Bucht erhebt. Die Mannschaft durfte in keinem der Häfen, an denen sie anlegten, an Land gehen. Als sich die rote Morgensonne erhob, ruderten sie hinaus auf das osskilische Meer gegen die Nordwinde, die, von keiner Insel behindert, ungestüm aus der endlosen Weite des Nordbereiches blasen. Aber sie brachten ihre Fracht unbeschädigt durch die stürmische See, und sie erreichten zwei Tage, nachdem sie Berila verlassen hatten, den Hafen von Neschun, der Handelsstadt von Ostosskil.
Ein starker Wind trieb den kalten Regen über flaches Küstenland. Eine graue Stadt drängte sich hinter der niedrigen, aus Steinen gebauten Hafenmauer, und dahinter erhoben sich kahle, baumlose Berge unter dunklen, schneebeladenen Wolken. Die Sonne des Innenmeeres lag weit hinter ihnen.
Die Hafenarbeiter der Schiffszunft von Neschun kamen an Bord und begannen die Ladung zu löschen. Sie bestand aus Gold, Silber, Geschmeide, wertvollen Seidenstoffen und Wandteppichen aus dem Süden, alles Dinge, die von den Fürsten auf Osskil gehortet werden. Die Freien unter der Mannschaft wurden entlassen. Ged hielt einen von ihnen an und fragte ihn nach dem Wege. Sein Mißtrauen gegenüber der Mannschaft war so groß gewesen, daß er bis jetzt noch keinem gesagt hatte, wo er hinwolle, aber jetzt, allein und auf fremdem Boden stehend, mußte er doch um Auskunft bitten. Der Mann aber zuckte nur ungeduldig die Achseln und sagte, ohne anzuhalten, daß er ihm nicht helfen könne, aber Skihor, der Geds Frage mitgehört hatte, antwortete: »Der Hof von Terrenon? Der liegt am Keksemtmoor, ich gehe auch in dieser Richtung.«
Skihor wäre der letzte gewesen, den Ged als Gefährten gewählt hätte, aber da er weder der Sprache noch des Weges kundig war, blieb Ged keine andere Wahl, als mit ihm zu gehen. Im Grunde war es ja auch egal, dachte er, denn es war nicht sein Entschluß gewesen, hierherzukommen. Etwas hatte ihn hierhergetrieben und trieb ihn nun weiter. Er zog seine Kapuze über den Kopf, griff nach Stab und Bündel und folgte dem Mann von Osskil durch die Straßen der Stadt hinauf in die schneebedeckten Hügel. Der kleine Otak hockte nicht auf seiner Schulter, sondern hatte sich in die Tasche seines Schafspelzwamses unter seinem Umhang verkrochen, was er immer tat, wenn es kalt war. Die Hügel verloren sich in dem düster und dunkel verhangenen Moor, das sich vor ihnen erstreckte, so weit das Auge reichte. Schweigend gingen sie den Pfad entlang, und schweigend lag das Land unter dem winterlichen Himmel.