Выбрать главу

So verbrachte er viele Tage elend und allein. Wenn er herunterkam von seinem Zimmer, war er schweigsam und förmlich. Die Schönheit der Fürstin verwirrte ihn, und an diesem vornehmen, geregelten, seltsamen Hof fühlte er sich wieder wie ein einfacher, ungehobelter Ziegenhirte.

Sie ließen ihn in Ruhe, wenn er für sich sein wollte. Wenn er es nicht mehr aushielt, allein in seinem Zimmer zu grübeln und dem fallenden Schnee zuzuschauen, dann setzte er sich zu Serret in einem der halbrunden Säle weiter unten im Turm, die vom Kaminfeuer erhellt und mit Wandteppichen behangen waren, und unterhielt sich mit ihr. Ausgelassen fröhlich konnte die junge Fürstin nicht sein, noch nie hatte er sie laut lachen hören, aber lächeln sah er sie oft, und ein Lächeln genügte, um Geds Herz zu erwärmen… Wenn er mit ihr beisammen war, dann vergaß er seine Steifheit und seine Schmach. Es dauerte nicht lange, und sie trafen sich jeden Tag und plauderten lange und ausführlich, während sie am Kamin oder an einem der Fenster in den hohen Räumen des Turms saßen, etwas entfernt von den Dienerinnen, die Serret überallhin begleiteten.

Der alte Fürst hielt sich meist in seinen Gemächern auf. Nur jeden Morgen konnte man ihn sehen, wie er im verschneiten Innenhof der Feste auf und ab ging. Er sah dann aus wie ein alter Zauberer, der die ganze Nacht damit verbracht hatte, Zaubereien zusammenzubrauen. Manchmal nahm er die Abendmahlzeit gemeinsam mit Ged und Serret ein, schweigend saß er dann an der Tafel, doch hin und wieder warf er einen harten, begehrlichen Blick auf seine junge Frau. Ged fühlte dann immer Mitleid in sich aufwallen. Serret kam ihm dann vor wie ein eingesperrtes weißes Reh, wie ein weißer Vogel, dem man die Flügel beschnitten hatte, oder wie ein wunderbarer silberner Reif am gichtigen Finger eines alten Mannes. Für Benderesk war sie nichts weiter als ein Bestandteil seines Schatzes. War der dann gegangen, so versuchte Ged, sie mit Worten zu unterhalten, ihre Einsamkeit erträglicher zu machen und ihr den gleichen Dienst zu erweisen, den sie auch ihm erwiesen hatte.

»Was ist das für ein Edelstein, der diesem Turm den Namen gibt?« fragte er sie, als sie nach dem Mahle vor ihren leeren Goldtellern und Goldbechern im Kerzenlicht des riesigen Speisesaales plaudernd beisammen saßen.

»Sie haben noch nie davon gehört? Er ist sehr bekannt.«

»Nein. Ich weiß nur, daß die Fürsten von Osskil berühmt sind für ihre Schätze.«

»O ja, das stimmt, aber dieser Stein übertrifft alle anderen. Möchten Sie ihn gerne sehen? Kommen Sie mit, ich zeige ihn Ihnen.«

Sie schaute ihn an und versuchte mutig und herausfordernd zu lächeln, und es schien Ged, als hätte sie ein wenig Angst vor dem, was sie jetzt tat. Sie führte den jungen Mann aus dem Saal hinaus durch die engen Gänge des Erdgeschosses und weitere Treppen hinunter, die in unterirdische Gewölbe führten, bis vor eine verschlossene Tür, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Mit einem Silberschlüssel schloß sie die Tür auf und schaute wieder auf Ged mit dem gleichen Lächeln, ihn auffordernd, ihr zu folgen. Hinter der Tür lag ein kurzer Gang und eine zweite Tür, die sie mit einem Goldschlüssel aufschloß, und dahinter war eine dritte Tür, die sie mit einer der großen Öffnungsformeln aufmachte. Diese Tür öffnete sich in einen Raum, der so klein wie ein Verlies war: Wände, Decke und Boden waren aus roh zugehauenem Stein. Sonst war nichts darin zu sehen.

»Sehen Sie ihn?« fragte Serret.

Als Ged seine Augen durch das Verlies schweifen ließ, fiel sein Blick auf einen Stein, der zwischen die anderen Steinplatten eingelassen war. Er sah nicht anders aus als die übrigen Steine, er war genauso grob zugehauen und feuchtdunkel, doch Ged fühlte die Macht, die von ihm ausging, so intensiv, als spräche er zu ihm. Der Atem blieb in seiner Kehle stecken, und für einen Moment befiel ihn Übelkeit. Vor ihm lag der Grundstein des Turmes. Hier war der Mittelpunkt, und es war kalt, bitterkalt, nichts konnte diesen kleinen Raum erwärmen. Uralt war dieses Ding, ein alter, furchtbarer Geist war in diesem Steinblock gefangen. Ged gab Serret keine Antwort auf ihre Frage, sagte weder ja noch nein, sondern stand regungslos. Sie deutete auf den Stein, indem sie ihm einen raschen, seltsamen Blick zuwarf: »Das hier ist der Terrenon. Wundern Sie sich, weshalb wir einen so seltenen Stein in unserer tiefsten Schatzkammer aufbewahren?«

Noch immer gab Ged keine Antwort, sondern stand stumm und abwägend. Es konnte sein, daß sie ihn nur prüfte, es konnte aber auch sein, daß sie keine Ahnung von dem wahren Wesen dieses Steines hatte, denn sie sprach so leichtfertig davon. Sie wußte wahrscheinlich nicht genug, um diesen Stein zu fürchten. »Erzählen Sie mir mehr von seiner Macht«, sagte er schließlich.

»Der Stein entstand, noch bevor Segoy die Inseln dieser Welt aus dem Meer emporsteigen ließ. Er bestand schon, als die Welt geschaffen wurde, und er wird bis ans Ende dieser Welt bestehen. Zeit ist ohne Bedeutung für ihn. Wenn Sie Ihre Hand darauf legen und eine Frage an ihn richten, wird er Ihnen Antwort geben, gemäß der Macht, die Sie besitzen. Seine Stimme wird von denen vernommen, die ihn verstehen können. Er weiß um die Geschehnisse der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Er hat Ihr Kommen vorausgesagt, lange bevor Sie dieses Land betreten haben. Werden Sie ihn etwas fragen?«

»Nein.«

»Er wird Ihnen Antwort geben.«

»Es gibt nichts, was ich ihn fragen wollte.«

»Er könnte Ihnen zum Beispiel sagen«, sprach Serret mit melodischer Stimme, »wie Sie Ihren Feind besiegen können.«

Ged gab keine Antwort.

»Fürchten Sie sich vor dem Stein?« fragte sie und schien ungläubig.

Er antwortete: »Ja.«

In der tödlichen Kälte und Stille dieser Zelle, die von den stärksten magischen Wänden umgeben und von Steinmauern umschlossen war, hier, im Licht einer einzigen Kerze, ließ Serret erneut einen Blick ihrer funkelnden Augen über ihn gleiten: »Sperber«, sagte sie, »Sie haben doch keine Angst!«

»Mit diesem Geist werde ich nicht sprechen«, sagte Ged. Dann faßte er Mut und blickte sie ernst und eindringlich an. »Fürstin, der Geist in diesem Stein ist eingeschlossen und gebunden in einem magischen Bann, der mit einem weiteren Bann verstärkt wurde. Er ist gebannt durch die großen Formeln des Verschließens und Verwahrens, er ist umgeben von dreifach verstärkten Festungswällen in einem leeren Land, nicht weil er wertlos ist, sondern weil er unsäglich Böses wirken kann. Ich weiß nicht, was man Ihnen sagte, als Sie hierherkamen. Aber Sie, die jung und weichherzig sind, sollten dieses Ding niemals berühren noch ihren Blick darauf ruhen lassen. Es kann Ihnen nichts Gutes bringen.«

»Ich habe ihn berührt. Ich habe auch mit ihm gesprochen und habe ihn reden hören. Er tat mir nichts.«

Sie wandte sich zum Gehen, und sie gingen zurück durch die Türen und Gänge, bis sie an die von Wandfackeln beleuchtete große Wendeltreppe des Turmes kamen. Hier blies Serret ihre Kerze aus, und sie trennten sich mit wenigen Worten.

Ged schlief nicht viel in dieser Nacht. Nicht der Gedanke an den Schatten hielt ihn wach, diese Furcht war verdrängt von dem Bild des Steines. Immer wieder tauchte es vor seinen Augen auf, und er grübelte über diesen Stein nach, der Grundstein dieses Turmes war. Und dazwischen sah er Serrets Gesicht, das ihm zugewandt war, das im Licht der flakkernden Kerze abwechselnd hell und dunkel schien. Er spürte wiederum ihren seltsamen Blick auf sich ruhen, als er sich geweigert hatte, den Stein zu berühren. War es Verachtung, was er in ihrem Blick gelesen hatte, oder hatte er sie verletzt? Als er sich endgültig zum Schlafen umdrehte, schienen ihm die seidenen Bettbezüge noch kälter als gewöhnlich, und er wachte wiederholt in der Dunkelheit auf, von dem Bild des Steines und dem Ausdruck in Serrets Augen beunruhigt.