Ged steckte den zerbrochenen Ring mit der gleichen Sorgfalt in sein Wams. Sein Herz war voll Mitleid. Jetzt ahnte er, wer diese beiden sein konnten: Die Kinder irgendeines königlichen Hauses des Kargadreiches, die ein Tyrann oder ein Usurpator, der Angst gehabt hatte, königliches Blut zu vergießen, auf dieser winzigen Insel, die auf keiner Karte verzeichnet war, ausgesetzt und sie dort, weit weg von Karego-At, ihrem Schicksal überlassen hatte. Das eine war ein acht- oder zehnjähriger Junge, das andere ein rundliches Baby, eine kleine, in Seide und Perlen gehüllte Prinzessin gewesen, und sie waren nicht gestorben, sondern hatten weitergelebt, allein und einsam, vierzig oder fünfzig Jahre lang, auf einem Felsen mitten im weiten Ozean — ein Prinz und eine Prinzessin der Trostlosigkeit.
Aber erst Jahre später, als Ged auf seiner Suche nach dem Ring von Erreth-Akbe in kargische Lande und zu den Gräbern von Atuan kam, wurde seine Vermutung bestätigt.
Geds dritte Nacht auf der Insel lichtete sich zu einem ruhigen, bleichen Sonnenaufgang. Es war der Tag der Wintersonnenwende, der kürzeste Tag des Jahres. Sein kleines Boot aus Holz und Magie, aus Überresten und Zauberformeln, lag bereit. Er hatte versucht, die beiden Alten zu bewegen, mit ihm zu kommen. Er hätte sie gerne in ein anderes Land, nach Spevy, Gont oder den Torriklen mitgenommen, er hätte sie sogar an irgendeiner einsamen Küste von Karego-At abgesetzt, wenn sie ihn darum gebeten hätten, obwohl es für einen Bewohner des Inselreiches gefährlich war, sich in kargische Gewässer zu wagen. Aber sie wollten ihr unfruchtbares Inselchen nicht verlassen. Die alte Frau schien seine Gesten und seine ruhigen Worte nicht zu verstehen, der alte Mann verstand ihn und schüttelte hartnäckig den Kopf. Seine Erinnerung an andere Länder und andere Menschen bestand aus den Angstträumen eines Kindes: Träumen aus Blut, Riesen und Angstschreien. Ged konnte es in seinem Gesicht, in seinen Augen lesen, als er sich beharrlich weigerte mitzukommen.
So kam es, daß Ged an diesem Morgen, nachdem er seinen Behälter aus Seehundfell mit Wasser gefüllt hatte, allein das Felsriff verließ. Da er den Alten für Feuer und Nahrung nicht danken und der alten Frau — wie er es so gerne getan hätte — kein Geschenk geben konnte, sprach er ein Zauberwort über die salzige, unzuverlässige Quelle. Daraufhin sprudelte das Wasser so hell, klar und frisch aus dem Sand hervor wie ein Bergquell auf Gont und versiegte nie. Aus diesem Grund ist die Insel heute in den Karten eingetragen und hat einen Namen: die Seeleute nennen sie die Quelleninsel. Aber die Hütte steht nicht mehr, und die zahllosen Winterstürme hinterließen keine Spuren von den beiden, die einst hier wohnten und einsam und verlassen starben.
Sie blieben in der Hütte und versteckten sich, als hätten sie Angst zuzuschauen, wie Ged sein Boot vom sandigen Südende der Insel aus ins Wasser schob und davonfuhr. Er ließ den Wind der Welt, der stetig aus dem Norden blies, seine Segel aus magischem Tuch füllen und segelte hurtig über die See davon.
Diese Seefahrt Geds war eine kuriose Angelegenheit. Wohl wußte er, daß er Jäger war, aber er wußte nicht, was er jagte und wo in der Erdsee sich das, was er jagte, aufhielt. Er war gezwungen, sich auf sein Gefühl, sein Glück, seine Ahnung zu verlassen, auf die gleichen Eigenschaften, auf die sich auch das Wesen, das er verfolgte, verließ. Denn beide waren sie blind füreinander; Ged war unsicher, wenn er körperlose Schatten sah, der Schatten war verwirrt, wenn er im Tageslicht vor greifbaren Wesen und Dingen stand. Eine Gewißheit aber hatte Ged. Er war Jäger und nicht Gejagter, denn der Schatten, der ihn in die Felsen gelockt hatte, hätte ohne weiteres Besitz von ihm ergreifen können, als er bewußtlos und halbtot am Ufer lag und sich in der Dunkelheit im Sturm durch die Dünen schleppte, aber er hatte die Gelegenheit nicht wahrgenommen. Er hatte Ged ans Felsgestade gelockt und war dann geflohen; er hatte nicht gewagt, sich Ged zu stellen. Aus diesem Verhalten entnahm Ged, daß Ogion recht gehabt hatte: der Schatten konnte ihm nichts von seiner Macht wegnehmen, solange er, Ged, sich gegen ihn wandte. Und das mußte er auch weiterhin tun, nach ihm, hinter ihm her mußte er jagen, obwohl die Fährte, die über die weite See führte, jetzt kalt war und obwohl er keine Anhaltspunkte hatte, die ihm den Weg weisen konnten. Nichts hatte er, außer dem Wind der Welt, der ihn südwärts trieb, und einer dunklen Ahnung, daß er sich südlich oder östlich halten mußte.
Vor Sonnenuntergang sah er linkerhand ganz schwach die Küste eines riesigen Landes liegen. Das mußte Karego-At sein. Er mußte sich mitten in den Seewegen dieser weißen Barbaren befinden. Scharf spähte er aus, ob sich kein Langschiff oder keine Galeere in der Nähe befand, und als er durch den roten Sonnenuntergang segelte, erinnerte er sich wieder an seine Jugend und den ereignisreichen Morgen in Zehnellern, an die federgeschmückten weißen Krieger, das Feuer und den Nebel. Und als die Erinnerung dieses Tages mächtig in ihm wurde, erkannte er mit Gewissensskrupeln, daß der Schatten ihn mit seinen eigenen Tricks hereingelegt hatte, als er auf dem Meer den Nebel um ihn wob. Der Schatten hatte ein Ereignis aus seiner Jugend wiederholt: er hatte die gefährlichen Felsen mit Nebel verdeckt, um ihn in den Tod zu locken.
Er behielt weiterhin südöstlichen Kurs bei, und das Land versank am Horizont, als die Nacht sich über den Ostrand der Welt erhob. Die Wellentäler lagen im Schatten, während die Kämme im rötlichen Glanz des Westens schillerten. Ged sang laut die Winterhymne und alle Strophen, an die er sich erinnerte, von den Taten des jungen Königs, denn diese Lieder werden beim Fest der Wintersonnenwende gesungen. Seine Stimme war hell und klar, doch sie verlor sich in der Weite des schweigenden Meeres. Die Dunkelheit verbreitete sich rasch, und die Sterne begannen zu funkeln.
Die ganze Nacht, die längste des Jahres, blieb er wach. Er sah die Sterne zu seiner Linken aufgehen, sich über ihn bewegen und im schwarzen Meer zu seiner Rechten wieder versinken, während die anhaltenden Winde des Winters ihn südlich über die unsichtbare See trieben. Nur ganz kurz nickte er ab und zu ein, wachte aber immer sofort wieder auf, denn das Boot, in dem er segelte, war eigentlich gar kein Boot, sondern ein Gebilde aus Zaubertricks und Zaubersprüchen mit einigen Brettern und Treibholz dazwischen, die sich schnell auflösen und als Strandgut auf dem Wasser davonschwimmen würden, wenn seine formgebenden Zauberworte nicht dauernd erneuert worden wären. Auch das Segel würde nicht lange Leinwand bleiben, wenn er einschliefe, sondern wie eine kleine Wolke vom Wind davongepustet werden. Geds Zauberworte waren gut gewählt und mächtig, aber wenn die Materie gering ist, dann muß die Macht, die sie zusammenhält, dauernd erneuert werden: und daher konnte er in der Nacht nicht schlafen. Es wäre einfacher gewesen, sich in einen Falken oder in einen Delphin zu verwandeln, und er wäre schneller vom Fleck gekommen, aber Ogion hatte ihn davor gewarnt, und er schätzte Ogions Rat. So segelte er südlich, unter den nach Westen ziehenden Sternen, und die lange Nacht verstrich langsam, bis endlich der erste Tag des neuen Jahres sein Licht übers Wasser ausbreitete. Bald nach Sonnenaufgang sah Ged Land vor sich liegen, aber er näherte sich ihm nur sehr langsam. Der Wind der Welt war fast abgestorben. Er rief einen leichten magischen Wind in sein Segel und ließ sich gegen das Land treiben. Beim Anblick des Landes hatte sich die Furcht wieder in sein Herz geschlichen, das wachsende Grauen, das ihn zum Fliehen, zum Weglaufen trieb. Aber er folgte diesem Grauen, wie der Jäger einer Spur folgt, der breiten, wuchtigen, klauenförmigen Spur eines Bären, der jeden Augenblick aus dem Dickicht brechen konnte. Er wußte, daß sein Feind nahe war: er spürte es.