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Das Land, das er immer deutlicher vor sich liegen sah, hatte seltsame Konturen. Was von der Ferne wie eine große, steile Felsküste ausgesehen hatte, entpuppte sich beim Näherkommen als eine Anzahl steiler Felsen, einzelne Inseln vielleicht, die durch schmale Meeresstraßen getrennt waren. Ged hatte im Einsamen Turm bei Meister Namengeber viele Landkarten und Seekarten studiert, aber sie waren meist vom Inselreich und Innenmeer gewesen. Jetzt befand er sich aber im Ostbereich, und diese Inseln waren ihm unbekannt. Doch das kümmerte ihn wenig. Das Fürchterliche versteckte sich dort, es wartete auf ihn, irgendwo an den Hängen und Wäldern der Insel, und er steuerte direkt darauf zu.

Jetzt ragten die waldbedeckten Felskliffe hoch über ihm, und der Gischt der an den Felsen zersprühenden Wellen zerstob an seinem Segel, als ihn der magische Wind zwischen zwei Vorgebirgen hindurch in eine Art Bucht trieb, die sich lang und schmal, nicht breiter als zwei Galeeren, tief ins Innere des Landes erstreckte. Das Meer, beengt und bedrängt von den Klippen, schlug ungestüm gegen die steilen Felswände. Kein Strand war zu sehen, denn die Felsen fielen steil ab ins Meer, das im kalten Schatten der hohen Felsen schwarz vor Ged lag. Kein Wind regte sich, kein Laut war zu hören.

Der Schatten hatte ihn in Osskil aufs Meer gelockt, im Nebel hatte er ihn zwischen die Felsen geführt, war dies hier der dritte Trick? Hatte er, Ged, den Schatten hierher getrieben, oder hatte der Schatten ihn in eine Falle gelockt? Ged wußte es nicht. Er litt nur unter dem Entsetzen und dem Grauen, das ihn folterte, und er wußte, daß er nicht aufgeben konnte, daß er vollenden mußte, was er angefangen hatte: dem Bösen mußte er nachjagen, dem Entsetzlichen mußte er bis zu seinem Ursprung folgen. Ganz vorsichtig steuerte er sein Boot, nach allen Richtungen hielt er Ausschau, seine Blicke glitten aufmerksam die Felswände auf und ab. Das Sonnenlicht des jungen Morgens lag hinter ihm auf der offenen See. Hier war alles dunkel. Die Öffnung zwischen den Vorgebirgen lag wie ein fernes, helles Tor weit hinter ihm. Die Felswände wurden höher, als er sich dem Berg näherte, von dem sie ihren Ursprung nahmen, und die Wasserstraße wurde schmaler und schmaler. Er spähte in die dunkle Kluft vor sich und blickte links und rechts auf die steilen, von Felsbrokken besäten und von Höhlen vernarbten Abhänge, an die sich knorrige Bäume klammerten, deren Wurzeln halb in der Luft hingen. Nichts rührte sich. Er hatte das Ende der Bucht erreicht. Das Meer, das hier nicht breiter als ein Bach war, schlug in kleinen, schwachen Wellen gegen eine hohe, leere, schrundige Felswand. Abgebrochene Felsstücke, verfaulte Baumstämme und die Wurzeln knorriger Bäume ließen nicht viel Raum zum Steuern. Es war eine Falle, eine dunkle Falle unter den Wurzeln des schweigsamen Berges, und er saß mittendrin. Nichts rührte sich vor ihm oder über ihm. Alles war totenstill. Er konnte nicht mehr weiter.

Vorsichtig wandte er das Boot herum — mit Zauberspruch und Ruder arbeitend, damit es nicht an einem vom Wasser verdeckten Felsen zerschelle oder an einer der Wurzeln oder einem der Zweige hängenbliebe —, bis er wieder dorthin schaute, woher er gekommen war. Er war gerade im Begriff, einen magischen Wind in sein Segel zu rufen, als die Worte auf seinen Lippen erstarben und das Herz in seiner Brust eiskalt wurde. Er blickte über die Schulter: der Schatten stand hinter ihm im Boot.

Hätte er eine Sekunde gezögert, so wäre er verloren gewesen. Aber er war bereit. Er warf sich auf das Wesen, das in Armeslänge unbestimmt vor ihm wankte, um es zu packen und festzuhalten. Keine Zauberkraft konnte ihm jetzt helfen, nur seine eigene Stärke, sein eigenes Leben gegen das Unlebendige. Er sprach kein Wort, sondern stürzte sich darauf, das Boot rollte und schlingerte unter der plötzlichen Bewegung. Ein stechender Schmerz durchlief seinen Arm, erfüllte seine Brust und benahm ihm den Atem. Eiseskälte durchrann seine Glieder, und er sah nichts mehr: doch seine Hände, die nach dem Schatten gegriffen hatten, hielten nichts — nur Dunkelheit, nur Luft.

Er strauchelte und ergriff den Mast, um sich festzuhalten. Licht schoß zurück in seine Augen. Er sah, wie der Schatten vor ihm zurückschauderte und zusammenschrumpfte, dann wuchs er wieder an und streckte sich aus, riesig, über das Segel hinaus, aber nur einen Augenblick lang, dann ballte er sich wie schwarzer Rauch im Wind zusammen und floh, eine formlose Masse, übers Meer, auf die helle Spalte zwischen den Felsen zu.

Ged fiel auf die Knie. Das kleine, aus Zauberworten geflickte Boot rollte noch einmal, dann schaukelte es sich allmählich aus, bis es still lag und auf den ruhelosen Wassern dahintrieb. Er sank in sich zusammen, betäubt, halb bewußtlos, nach Atem ringend, bis er kaltes Wasser unter seinen Händen spürte, das im Boot aufgestiegen war und ihn mahnte, seine inzwischen schwach gewordenen Zauberformeln zu erneuern. Er stand auf und hielt sich am Stab fest, er wirkte seine Bindeformeln, so gut er es vermochte. Er war durchfroren und todmüde, seine Hände und Arme schmerzten, und er fühlte, daß er keine Kraft mehr besaß. Er sehnte sich danach, sich niederzulegen, tief unten, wo sich Berg und Meer trafen und zu schlafen, immerfort zu schlafen, dort unten auf dem ewig schaukelnden Wasser.

Es war ihm nicht möglich, festzustellen, ob seine Erschöpfung von dem vor ihm fliehenden Schatten ausging oder ob sie von der eisigen Berührung herrührte oder ob sie ganz einfach von Hunger, Schlaflosigkeit und Kräfteverlust kam, aber gleichgültig, woher sie stammte, er kämpfte dagegen an und zwang sich, einen leichten magischen Wind aufzubringen und dem Schatten über die schmale, dunkle Bucht zu folgen, durch die er geflohen war.

Aller Schrecken war vorbei, alle Kampflust war vergangen. Die Jagd war vorüber. Er war kein Verfolger und kein Verfolgter mehr. Zum dritten Mal waren sie zusammengestoßen und hatten sich berührt. Er hatte sich aus eigenem Antrieb gegen den Schatten gewandt und versucht, ihn zu ergreifen und festzuhalten. Nun bestand zwischen ihnen ein unzerreißbares Band, eine Verbindung, die keine schwache Stelle besaß. Er brauchte dem Schatten nicht mehr nachzujagen, er mußte seine Fährte nicht mehr suchen, auch der Schatten konnte nicht mehr davoneilen. Keiner von beiden konnte entfliehen. Zeit und Ort ihres letzten Zusammentreffens waren bestimmt, und wenn sie wieder aufeinandertrafen, würde es zum letzten Kampf kommen.

Aber bis zu dem Zeitpunkt gab es keinen Frieden für Ged, weder bei Tag noch bei Nacht, weder auf dem Land noch auf der See. Jetzt wußte er, und das Wissen war bitter, daß seine Aufgabe nicht darin bestand, das, was er getan hatte, wiedergutzumachen, sondern das, was er begonnen hatte, zu vollenden.

Er segelte durch das dunkle Felsentor hinaus aufs Meer, auf dem der helle, weite Morgen lag. Ein mäßiger Wind blies aus dem Norden.

Er trank das restliche Wasser, das noch im Seehundfell war, und steuerte um das westliche Vorgebirge herum und in eine breite Meeresstraße hinein, die das Vorgebirge von einer zweiten Insel weiter westlich trennte. Jetzt wußte er, wo er sich befand. Er erinnerte sich an die Seekarten des Ostbereiches. Dies hier waren die Hände, zwei Inseln, die ihre gebirgigen Finger nach Norden gegen Kargad streckten. Zwischen den beiden Inseln segelte er, und als sich gegen Nachmittag Wetterwolken im Norden zusammenzogen, ging er an der Südküste der westlichen Insel an Land. Er hatte ein kleines Dorf erspäht, das oberhalb des Strandes an einem Bach lag, der munter den Berg herunterplätscherte und sich in die See ergoß. Es war ihm gleichgültig, wie man ihn dort aufnahm. Er sehnte sich nur nach frischem Wasser, der Wärme des Feuers und nach Schlaf.