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Als er um sich blickte, mußte er jedoch feststellen, daß die Gesichter im allgemeinen freundlich und gutmütig aussahen. Aber sie spürten, was er mit Gewißheit wußte: er stand abseits von ihnen, er gehörte nicht zu ihnen, Unheil lastete auf ihm, und er folgte einer dunklen Macht. Er war wie ein kalter Wind, der diesen vom Feuer erwärmten Raum abkühlte, er war der schwarze Vogel, den ein Sturm aus fremden Landen hierher verschlagen hatte. Je früher er weiterzog und sein dunkles Schicksal mit sich nahm, desto besser für die Leute hier.

»Ich bin auf der Suche nach etwas«, sagte er zu dem Wirt. »Ich bleibe nur ein oder zwei Nächte hier.« Seine Stimme klang niedergeschlagen. Der Wirt verstummte und warf einen Blick auf den großen Stab, der in der Ecke des Raumes lehnte. Dann füllte er Geds Glas mit dem braunen Bier, bis der Schaum überlief.

Ged wußte, daß er nicht länger als eine Nacht in Ismay bleiben konnte. Er war hier nicht willkommen, nirgends war er willkommen. Dorthin mußte er gehen, wohin sein Schicksal ihn trieb. Aber er hatte genug von der kalten, leeren See, von der Stille, in der es keine Stimmen gab, die mit ihm sprachen.

Er nahm sich vor, einen Tag auf Ismay zu bleiben, morgen würde er weiterziehen. Er stand nicht sofort auf, als er aufwachte. Draußen schneite es leicht, und er wanderte ziellos durch die Straßen und über die Plätze der Stadt, er sah den Leuten zu, die geschäftig bei der Arbeit waren, er beobachtete Kinder, die in pelzgefütterten Umhängen steckten und Schneeberge und Schneemänner bauten, er hörte, wie die Hausfrauen, unter ihren Türen stehend, sich über die Straße miteinander unterhielten, er sah einem Bronzeschmied zu, der über der Schmelzgrube arbeitete, während ein kleiner Junge, hochrot im Gesicht und schwitzend vor Anstrengung, den Blasebalg bediente. Durch die Fenster, die in der frühen Dämmerung von innen beleuchtet, wie rötliches Gold glänzten, sah er Frauen in der Wärme ihrer anheimelnden Stuben an ihren Spinnrocken sitzen, die ab und zu lächelnd einen Blick auf Mann und Kind warfen oder mit ihnen sprachen. All dies sah er, ausgeschlossen und allein draußen in der Kälte stehend, und sein Herz wurde ihm schwer, doch er wollte nicht zugeben, daß er traurig war. Es wurde Nacht, und noch immer wanderte er durch die Straßen und schob seine Rückkehr ins Wirtshaus hinaus. Er hörte einen Mann und ein Mädchen miteinander scherzen und an ihm vorbei auf den Marktplatz zugehen, und plötzlich drehte er sich um, denn er hatte die Stimme des Mannes erkannt.

Er ging den beiden nach, um sie einzuholen, und bald war er neben ihnen. Im späten Dämmerlicht war er nur schwach von entfernten Laternen beleuchtet. Das Mädchen wich einen Schritt zurück, aber der Mann starrte ihn an, dann riß er den Stab hoch und hielt ihn zwischen sich und den Fremden, als Schranke gegen das Böse und um Unheilvolles abzuwehren. Das war mehr, als Ged ertrug, seine Stimme brach, als er sagte: »Ich dachte, du würdest mich erkennen, Vetsch.«

Selbst jetzt zögerte Vetsch noch einen Augenblick.

»Gewiß kenne ich dich«, sagte er und senkte seinen Stab, dann ergriff er Geds Hände und legte seinen Arm um Geds Schulter,»… natürlich kenne ich dich! Willkommen, mein Freund, willkommen! Was für ein schlechter Empfang, als ob du ein Geist wärst, der sich von hinten heranschleicht — und ich habe auf dich gewartet und habe so nach dir Ausschau gehalten…«

»Dann bist du also der Zauberer, auf den sie hier so stolz sind in Ismay? Ich habe mich gewundert…«

»O ja, ich bin ihr Zauberer, aber hör mir erst zu, ich will dir erzählen, warum ich dich nicht gleich erkannte, mein Junge. Vielleicht habe ich zu sehr auf dich gewartet und nach dir Ausschau gehalten. Vor drei Tagen — warst du vor drei Tagen in Iffisch?«

»Ich bin gestern gekommen.«

»Vor drei Tagen habe ich dich in Quor, das ist ein Dorf in den Bergen da oben, gesehen. Das heißt, es war eine Gestalt, die deiner ähnlich war, vielleicht dein Doppelgänger. Er lief vor mir her, aus dem Dorf hinaus, und er bog gerade in eine Straße ein, als ich ihn sah. Ich rief, doch er antwortete nicht, ich ging ihm nach, doch ich fand niemanden, ich sah auch keine Spuren, aber der Grund war gefroren. Es war ganz seltsam, und als ich dich jetzt so aus dem Schatten hervortreten sah, dachte ich, daß es wieder ein Trick sein könnte. Verzeih, Ged, es tut mir leid!« Er redete Ged mit seinem wahren Namen an, aber so leise, daß das Mädchen, das ein wenig abseits stand, ihn nicht hören konnte.

Ged antwortete, ebenso leise, weil er den wahren Namen seines Freundes aussprach: »Das macht nichts, Estarriol. Aber das hier bin ich, und ich bin froh, dich wiederzusehen.«

Vetsch hörte in seiner Stimme mehr als nur die Freude über ihr Wiedersehen. Er hielt Ged noch immer an der Schulter fest und sagte jetzt in der Ursprache: »Mit Sorgen und aus der Dunkelheit kamst du, Ged, doch dein Kommen bringt Freude in mein Herz.« Dann fuhr er in Hardisch, mit seinem Ostbereichakzent, fort: »Komm, komm mit uns, wir sind auf dem Heimweg, es wird Zeit, daß wir aus der Dunkelheit herauskommen! — Das ist meine Schwester, die Jüngste in der Familie, hübscher als ich, wie du selbst sehen kannst, dafür weniger klug: sie heißt Jarro. Jarro, das ist der Sperber, der beste von uns allen und mein Freund.«

»Herr Zauberer«, sagte das Mädchen und begrüßte ihn, indem sie höflich den Kopf neigte und ihre Augen mit den Händen bedeckte, wie es Sitte ist unter den Frauen des Ostbereiches. Als sie ihre Hände hob, sah sie Ged aus hellen Augen schüchtern und auch etwas neugierig an. Sie mußte ungefähr vierzehn Jahre alt sein; sie war so dunkel wie ihr Bruder, nur viel schmaler und zierlicher. Auf ihrem Ärmel hielt sich ein geflügelter Drache, nicht länger als eine Hand, mit seinen Krallen fest.

Zusammen gingen sie im Dämmerlicht die Straße hinunter, und Ged sagte, als sie nebeneinander herschritten: »Von den Frauen in Gont sagt man, daß sie mutig seien, aber ich habe dort noch kein Mädchen gesehen, das einen Drachen als Armband trug.«

Jarro mußte daraufhin lachen, und sie antwortete: »Das ist doch nur ein Harreki, gibt es auf Gont keine Harrekis?« Dann wurde sie wieder schüchtern und bedeckte ihre Augen.

»Nein, aber es gibt auch keine Drachen. Ist dies Geschöpf denn kein Drache?«

»Nur ein kleiner, der in Eichen wohnt und Wespen und Würmer und Spatzeneier frißt — aber er wird nie größer werden. Oh, mein Bruder hat mir oft von dem kleinen wilden Tier erzählt, das Sie hatten, von dem Otak — haben Sie ihn noch?«

»Nein, ich habe ihn nicht mehr.«

Vetsch schaute ihn fragend an, aber er sagte nichts, erst viel später erfuhr er es, als sie beide allein an der aus Steinen gebauten Feuerstelle in Vetschens Haus saßen.

Obgleich er der oberste Zauberer auf der ganzen Insel Iffisch war, zog es Vetsch vor, hier in Ismay, in dieser kleinen Stadt, wo er geboren war, zusammen mit seinem jüngeren Bruder und seiner Schwester zu wohnen. Sein Vater war ein wohlhabender Überseekaufmann gewesen, und das Haus war geräumig, aus starken Balken gebaut, und man sah den Wohlstand an den feinen Töpferwaren, den schönen gewebten Behängen und Decken, den Behältern aus Bronze und Messing, die auf geschnitzten Brettern und Truhen standen. In einer Ecke des großen Raumes stand eine mächtige taonische Harfe, und in einer anderen Ecke stand Jarros Webstuhl, dessen hoher Rahmen mit Elfenbein eingelegt war. Man merkte, daß Vetsch trotz seines einfachen, biederen Wesens ein gar mächtiger Zauberer und Herr über einen stattlichen Haushalt war. Außer ihm gab es ein paar ältere Bedienstete, denen man ansah, daß es ihnen in diesem Haus wohl erging; dann waren noch sein jüngerer Bruder, ein munterer Knabe, und Jarro da, die sie flink und schweigsam wie ein kleiner Fisch beim Abendessen bedient hatte und auch mit ihnen gegessen hatte; sie war ihrer Unterhaltung aufmerksam gefolgt, später aber war sie in ihr eigenes Zimmer verschwunden. Alles hier war gediegen und friedlich und sicher. Ged blickte in dem vom Feuer erhellten Raum umher und seufzte: »So sollte man leben.«