Ged seufzte manchmal auch, aber er beklagte sich nie. Er wußte, daß hinter dieser öden, endlosen Namenlernerei jedes Ortes, Dinges und Wesens die Macht lag, die er begehrte, er sah sie wie ein Juwel auf dem Grund eines tiefen trockenen Brunnens funkeln. Denn die Essenz der Magie lag hier, im Wissen um den wahren Namen eines Dinges. Kurremkarmerruk sprach ein einziges Mal darüber, damals, als sie ihre erste Nacht im Turm verbrachten; nie wieder hatte er es seither erwähnt. Ged hatte seine Worte nicht vergessen. »Mancher Magier verbrachte sein ganzes Leben damit, den wahren Namen eines einzigen Dinges herauszufinden — einen einzigen Namen, der verlorenging oder verborgen war. Trotzdem sind die Namenreihen noch nicht zu Ende, und sie werden es auch nicht sein, solange die Erde besteht. Hört zu, und dann werdet ihr verstehen, warum das so ist: Auf dieser Welt und in der Welt, wohin kein Sonnenstrahl fällt, gibt es viele Dinge, die weder mit Menschen noch mit der menschlichen Sprache etwas zu tun haben, und es gibt Dinge, die außerhalb unserer Machtsphäre liegen. Aber Magie, wahre Magie, wird nur von denen ausgeübt, die das Hardisch der Erdsee sprechen oder die Ursprache, aus der es stammt.
Das ist die Sprache der Drachen und die Sprache von Segoy, der die Inseln dieser Welt schuf, und es ist auch die Sprache unserer Lieder und Epen und unserer Zauber- und Bannsprüche. Die Worte dieser Sprache sind versteckt in unserem Hardisch. Den Wellenschaum zum Beispiel nennen wir Sukien; das Wort besteht aus zwei Wörtern der Ursprache, aus ›Suk‹, die Feder und aus ›Inien‹, die See; zusammengesetzt gibt das ›Feder der See‹, und das ist nichts anderes als Wellenschaum. Aber Wellenschaum bleibt Wellenschaum, wenn man ihn Sukien nennt; um ihn zu verändern, muß man seinen wahren Namen in der Ursprache kennen und der ist Essa. Jedes Zauberweib kennt ein paar von diesen Worten, ein Magier kennt viele Namen. Aber es gibt viel mehr. Manche gingen verloren im Laufe der Zeit, andere sind irgendwo versteckt; manche sind nur den Drachen und den Urmächten der Erde bekannt, und es gibt auch welche, die keinem Lebewesen bekannt sind. Niemand kennt sie alle, denn diese Sprache ist ohne Ende.
Und das ist der Grund dafür: Der Name des Meeres ist Inien, stimmtʹs? Na gut! Aber was wir hier das Innenmeer nennen, hat seinen eigenen Namen in der Ursprache. Da aber kein Ding zwei Namen haben kann, bedeutet Inien die ganze See — außer dem Innenmeer. Und natürlich stimmt das auch nicht, denn es gibt unzählige Gewässer, Buchten, Meerengen und so weiter, die alle ihre eigenen Namen haben. Ist nun ein Magier verrückt genug, um einen Sturm oder eine Stille im ganzen Ozean wirken zu wollen, dann muß er nicht nur den Namen Inien aussprechen, sondern den Namen von jedem Stückchen und jedem Teilchen im ganzen Inselmeer und in den äußeren Bereichen bis dorthin, wo es gar keine Namen mehr gibt. Und so kann man wohl sagen, daß uns zwar die Macht verliehen ist, Magie zu wirken, daß dieser Macht aber Grenzen gesetzt sind. Nur das Naheliegende, nur das Gutbekannte kann von einem Magier beeinflußt werden. Und das ist auch gut so, denn die Bosheit des Mächtigen und die Einfalt des Weisen hätten schon längst versucht das zu ändern, was nicht verändert werden soll, und das Gleichgewicht wäre gestört… Eine aus dem Gleichgewicht geratene See aber würde die Inseln überschwemmen, auf denen wir so schutzlos leben, und in abgrundtiefer Stille würden alle Stimmen und Namen untergehen.«
Ged dachte lange nach über diese Worte, und sie prägten sich ihm tief ein. Aber das darin enthaltene Große und Erhabene machten das Lernen, das in diesem langen Jahr im Turm auf ihn wartete, nicht weniger mühselig. Am Ende des Jahres sagte Kurremkarmerruk zu ihm: »Du hast einen guten Anfang gemacht.« Mehr sagte er nicht. Zauberer sprechen immer die Wahrheit, und Ged wußte, daß das Beherrschen der Namen, um das er sich ein Jahr lang so schwer plagte, nur der Anfang war. Er wußte, daß er sein ganzes Leben würde lernen müssen. Er durfte früher als die anderen den Turm verlassen, denn er hatte schneller als sie gelernt. Darin bestand seine ganze Belohnung, ein anderes Lob bekam er nicht.
Es war früh im Winter, als er allein über die leeren, windgefegten Straßen nach Süden über die Insel pilgerte. Als es dunkel wurde, begann es zu regnen. Keine Zauberformel stand ihm zur Verfügung, die diesen Regen hätte abwenden können, denn das Wetter auf Rok war in den Händen von Meister Windschlüssel, und es war verboten, sich einzumischen. So wickelte er sich in seinen Umhang und suchte Schutz unter einem Perdickbaum nahebei und dachte an Ogion, seinen Meister, der vielleicht noch auf seinen Herbstwanderungen durch die Höhen von Gont streifte und unter einem Dach von dichtverwobenen Ästen, zwischen Wänden fallenden Regens schlief. Darüber mußte er lächeln. Der Gedanke an Ogion war immer tröstlich, und mit friedlichem Herzen schlief er in der kalten Finsternis im unaufhörlich wispernden Wasser ein. Im Morgengrauen wachte er auf und sah ein kleines, zusammengerolltes Tierchen in den Falten seines Mantels schlafen. Es mußte sich in der Nacht, Wärme und Schutz suchend, zu ihm geschlichen haben. Er war überrascht, als er es näher betrachtete, denn es war ein Otak, ein seltenes und seltsames Tier.
Diese kleinen Tiere gab es nur auf den vier südlichen Inseln: Rok, Ensmer, Pody und Wathort. Sie sind klein und glatt, mit runden Gesichtern, dunkelbraunem oder gestreiftem Fell und großen blanken Augen; ihre Zähne sind scharf und grausam, ihr Wesen unberechenbar, so daß sie selten als Haustiere gewählt werden; sie geben keinen Laut von sich, denn sie haben keine Stimme. Ged streichelte das kleine Ding, und es erwachte und gähnte, streckte seine kleine braune Zunge heraus und zeigte seine weißen Zähne, aber es war nicht scheu. »Otak«, sagte er und dann fielen ihm die Hunderte von Tiernamen ein, die er im Turm gelernt hatte, und er redete es mit seinem wahren Namen in der Ursprache an: »Hög! Willst du mit mir kommen?«
Der Otak setzte sich auf Geds Hand und begann mit der Zunge sein Fell zu säubern.
Ged hob ihn hoch, und der Otak kuschelte sich in die Falten seiner Kapuze, und auf Geds Schulter reitend, begleitete er ihn. Manchmal sprang er herunter und verschwand im Wald, aber er kam immer wieder zurück, einmal mit einer Feldmaus, die er gefangen hatte. Ged lachte und ermunterte ihn, die Maus zu essen, denn er selbst fastete, da es die Nacht der Sonnenwende war. In der feuchten Dämmerung erreichte er den Rokkogel, und endlich sah er durch den Regen die hell brennenden Werlichter über den Dächern des Großhauses flackern, und er betrat den großen, warmen, hellerleuchteten Saal, in dessen Kamin ein großes Feuer knisterte, wo ihn seine Meister und Studienkollegen willkommen hießen.