»Rede!« gebot sie ihm, um den Bann auszuprobieren.
Der Junge konnte nicht sprechen, aber er lachte.
Da bekam die Tante etwas Angst vor der in ihm ruhenden Macht. Sie hatte ihren stärksten Zauberspruch gewählt und versucht, sein Reden und sein Schweigen zu beherrschen und ihn gleichzeitig an sich und in den Dienst ihres Zaubergewerbes zu binden. Doch während er unter dem Bann stand, konnte er lachen. Sie sagte kein Wort, sondern schüttete frisches Wasser ins Feuer, bis der Rauch sich verzogen hatte, dann gab sie dem Jungen Wasser zu trinken, und als die Luft wieder sauber war und er wieder reden konnte, lehrte sie ihn den wahren Namen des Falken, dem der Falke gehorchen mußte.
Das war Dunys erster Schritt auf dem Pfad, dem er den Rest seines Lebens folgen sollte, der Pfad der Magie, der Pfad, der ihn schließlich dazu führte, einem Schatten über Land und Meer nachzujagen, bis an die finstere Küste des Totenreiches. Aber als er die ersten Schritte tat, schien der Pfad weit und breit zu sein.
Als Duny erlebte, wie der wilde Falke pfeilschnell aus den Wolken zu ihm herunterstieß, wenn er ihn bei seinem eigentlichen Namen rief, und sich wie der Edelfalke eines Prinzen mit rauschenden Flügeln auf seinem Handgelenk niederließ, trieb ihn die Begierde, noch andere Namen zu lernen, und er ging zu seiner Tante und bat sie, ihn den Namen des Sperbers, des Reihers und des Adlers zu lehren. Um sich diese Worte, die ihm soviel Macht gaben, anzueignen, tat er alles, was die Tante von ihm verlangte, lernte alles, was sie ihm beibringen wollte, obwohl manches Wissen und manche Verrichtung abstoßend waren. Die Redensarten »so schwächlich wie die Zauberei einer Frau« oder »so gemein wie die Zauberei einer Frau« waren allgemein bekannt in Gont. Zwar gehörte das Zauberweib von Gont keineswegs zu den Hexen der Schwarzen Künste, sie mischte sich auch nicht in die Hohen Künste oder in den Umgang mit Urkräften, aber da sie ein unwissendes Weib war, das unter unwissendem Volk hauste, lag ihren Bemühungen oft eine ganz primitive und zweifelhafte Absicht zu Grunde. Sie wußte nichts vom Gleichgewicht und von der Formgebung, die der wahre Zauberer kennt, denen er dient und die ihn lehren, Magie nur im äußersten Notfall auszuüben. Sie hatte für jede Gelegenheit einen Spruch bereit und beschäftigte sich praktisch dauernd damit, irgendeinen Zauber zu bewerkstelligen. Viel davon war Humbug und nutzlos, denn sie konnte die wahren von den falschen Zaubersprüchen nicht unterscheiden. Aber ihre Verwünschungen waren fast immer erfolgreich, ja man konnte fast sagen, daß sie eher eine Krankheit verursachen als heilen konnte. Wie jedes in einem Dorf ansässige Zauberweib war sie geschickt im Mischen von Liebestränken, aber es gab auch andere, schlimmere Tränke, die sie auf Wunsch braute, um Eifersucht und Haß zu stillen. Dieses Wissen verbarg sie vor ihrem jungen Lehrling, und soweit es in ihrer Macht lag, lehrte sie ihn ein ehrliches Gewerbe. Duny hatte seine kindliche Freude daran, die magische Kunst zu erlernen. Sie machte ihn zum Meister über alles Getier, das fliegende und das kriechende, und zeigte ihm das wahre Wesen ihrer Natur. Diese Freude blieb ihm den Rest seines Lebens. Oft, wenn die Kinder ihn auf den hohen Almen sahen, war er von einem Raubvogel umschwirrt, und sie begannen, ihn den »Sperber« zu nennen. Dieser Name blieb ihm und wurde von all denen gebraucht, die seinen wahren Namen nicht kannten. Da das Zauberweib ihm oft vom Ruhm und Reichtum und von der großen Macht erzählte, die ein Zauberer über die Menschen erringen konnte, nahm sich Duny vor, mehr von der Zauberkunde zu erlernen. Das Lernen fiel ihm leicht. Das Zauberweib lobte ihn oft, und die Kinder begannen ihn zu fürchten. Er selbst wußte, daß er bald berühmt werden würde unter den Menschen. So verging die Zeit, und er lernte nacheinander Worte und Beschwörungsformeln von dem Zauberweib. Als er zwölf Jahre alt war, kannte er einen großen Teil ihres Wissens. Es war nicht allzuviel, aber für das Zauberweib eines kleinen Dorfes genügte es, und für einen zwölfjährigen Knaben war es mehr als genug. Sie lehrte ihn alles, was sie von Kräutern und vom Heilen wußte, und was ihr bekannt war von den Künsten des Findens, des Fesselns, des Zusammenfügens, des Öffnens und des Schließens. All die Lieder der Sänger, die sie kannte, sang sie ihm vor, die von den Taten vergangener Helden handelten, und die Worte der wahren Sprache, die sie von dem Zauberer, bei dem sie in die Schule gegangen war, gelernt hatte, gab sie an Duny weiter. Von den Wettermachern und den Spielleuten, die von Stadt zu Stadt durch das Nordtal und den Ostwald zogen, lernte er verschiedene Tricks und interessante Spielereien, meist Schein- und Illusionszauber. Einer dieser Tricks, ein Illusionszauber, offenbarte zum ersten Mal die Macht, die in Duny steckte.
Zur damaligen Zeit war Kargad ein mächtiges Reich. Es bestand aus vier großen Ländern, die zwischen dem Nord- und Ostbereich lagen: Karego-At, Atuan, Hur-at-Hur und Atnini. Die Sprache, die dort gesprochen wurde, war anders als die der Bewohner des Inselreiches und der anderen Landstriche. Es war ein barbarisches Volk, das dort wohnte, weißhäutig, blondhaarig und wild, das gerne Blut sah und gerne brennende Städte roch. Im Jahr zuvor hatten sie die Inselgruppe der Torikien und die stark befestigte Insel Torheven angegriffen und verschiedene Raubzüge gegen sie unternommen mit ihren großen Flottillen wehrhafter Schiffe unter roten Segeln. Die Nachrichten erreichten das nördliche Gont, aber die Fürsten in Gont waren zu sehr mit ihrer eigenen Seeräuberei beschäftigt und kümmerten sich wenig um die Bedrängnisse anderer Länder. Dann aber fiel Spevy unter den Angriffen der Kargs und wurde geplündert und in Asche gelegt und die Bewohner als Sklaven verschleppt und die Insel derart zerstört, daß sie heute noch in Ruinen liegt. Danach, von Siegeslust beflügelt, fuhren die Kargs nach Gont mit einer Flotte von dreißig schnellen, langen Segelbooten und legten im Osthafen an. Sie kämpften sich durch die Stadt, eroberten sie und setzten sie in Brand. Dann ließen sie ihre Schiffe unter Bewachung an der Mündung der Ar zurück und drangen aufwärts ins Tal vor, raubend, plündernd und mordend, Mensch und Tier. Im weiteren Vordrängen teilten sie sich in Rotten, und jede dieser Rotten nahm und zerstörte, was den Männern gefiel. Flüchtlinge kamen und warnten die Dorfbewohner der Höhe. Bald darauf sahen die Bewohner von Zehnellern im Osten Rauch aufsteigen, der den Himmel verdunkelte. Wer hinaufstieg auf den Hohen Fall, konnte den Rauch sehen, der über dem Tal lag, und die rote Glut wahrnehmen, die vom Brand der erntereifen Felder herrührte oder von den Obstbäumen, an deren Zweige die Früchte verkohlten, oder von den Höfen und Scheunen, die loderten und zu Asche zerfielen.
Einige der Dorfbewohner flüchteten sich hinauf in die Schluchten und versteckten sich im Wald, andere bereiteten sich zur Verteidigung vor, und manche taten überhaupt nichts, sondern standen nur herum und jammerten. Das Zauberweib war unter den Flüchtenden. Sie versteckte sich allein in einer Höhle am Kapperding Kamm und verschloß die Öffnung der Höhle mit Zauberworten. Dunys Vater, der Bronzeschmied, gehörte zu denen, die blieben. Er wollte seine Schmiedegrube und seinen Amboß, die ihm fünfzig Jahre lang treu gedient hatten, nicht im Stich lassen. Er schaffte die ganze Nacht durch, schmolz alles verfügbare Metall zu Speerklingen, die er, unter Mithilfe der anderen, an die Schäfte von Hacken und Rechen band, denn die Zeit war zu kurz, um regelrechte Fassungen herzustellen. Im ganzen Dorf gab es außer Pfeilen, Bogen und Jagdmessern keine Waffen, denn die Bergbewohner von Gont waren nicht als Krieger, wohl aber als Ziegendiebe, Piraten und Zauberer bekannt.
Der Sonnenaufgang brachte dichten, weißen Nebel, nicht ungewöhnlich im Herbst hier oben auf der Insel. Die Dorfbewohner standen zwischen ihren Hütten und Häusern entlang der krummen Straße von Zehnellern. In ihren ungeübten Händen hielten sie Pfeil und Bogen und die neugeschmiedeten Speere, aber sie wußten nicht, ob die Kargs noch weit weg oder schon ganz nahe waren. Unbeweglich und still standen sie und starrten in den Nebel, der alle Umrisse, Entfernungen und Gefahren vor ihren Augen verbarg.