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Nach seinem achtzehnten Geburtstag wurde Ged vom Erzmagier zu dem Meister der Formgebung gesandt. Was dort im Immanenten Hain gelehrt wird, bleibt meist verborgen. Zauber wird dort nicht gewirkt, der Ort selbst ist verzaubert.

Manchmal sind die Bäume sichtbar, manchmal sind sie unsichtbar. Sie befinden sich auch nicht immer an der gleichen Stelle. Es wird behauptet, daß die Bäume des Haines selbst weise sind und daß der Meister des Gestaltens seine hohe Magie dort inmitten des Haines lernt. Sollten die Bäume je sterben, so würde auch seine Weisheit verkümmern. Dann würde das Meer wieder aufsteigen und die Inseln der Erdsee verschlingen, die Segoy in vormythischen Zeiten aus der Tiefe hatte aufsteigen lassen, den Menschen und Drachen zur Wohnstätte.

Aber all dies sind Gerüchte, und kein Zauberer wird darüber sprechen.

So vergingen die Monate, und endlich, an einem Frühlingstag, kehrte Ged zum Großhaus zurück. Er hatte keine Ahnung, was nun von ihm verlangt werden würde. An der Tür, die sich auf den Pfad öffnet, der über die Felder zum Rokkogel führt, traf er auf einen alten Mann, der dort auf ihn gewartet hatte. Ged erkannte ihn zunächst nicht, aber nachdem er sich etwas besonnen hatte, fiel ihm ein, daß ihn der alte Mann damals vor fünf Jahren in die Schule eingelassen hatte.

Der alte Mann begrüßte ihn freundlich lächelnd mit seinem Namen und fragte: »Kennst du mich?«

Ged fiel ein, wie er schon öfters über die Meister nachgegrübelt hatte, die man die Neun nennt, von denen er aber nur acht kannte: Windschlüssel, Hand, Sänger, Gebieter, Formgeber, Verwandler und Kräutermeister. Er hatte angenommen, daß der Erzmagier der neunte war, aber wenn ein neuer Erzmagier gewählt wird, dann treten neun Meister zusammen, um zu beraten.

»Ich glaube, Sie sind der Meister Türhüter«, sagte Ged.

»Ja, der bin ich. Ged, du wurdest in Rok eingelassen, weil du deinen Namen genannt hast. Nenne nun meinen, und du wirst von der Schule entlassen werden.« So sprach der alte Mann und lächelte. Ged starrte ihn sprachlos an.

Selbstverständlich kannte er Hunderte von Mitteln und Wegen, um die Namen von Menschen und Dingen herauszufinden. Dies Wissen war ein Grundbestandteil seines Studiums gewesen, denn wenig Magie käme zustande, wenn es daran mangeln würde. Aber den Namen eines Magiers oder Meisters herauszufinden, war wieder eine ganz andere Sache.

Er war schwerer herauszufinden als ein Hering im Meer und besser beschützt als die Höhle eines Drachen. Der Versuch, den Namen durch einen Trick herauszufinden, würde durch einen stärkeren Trick zunichte gemacht werden, verblümte Anfragen würden genauso verblümt abgebogen werden, und der listige Gebrauch magischer Formeln würde sich katastrophal auf den Handhabenden auswirken.

»Meister, Ihre Tür ist sehr schmal«, sagte Ged schließlich. »Ich glaube, ich muß hier draußen auf dem Acker sitzen und fasten, bis ich dünn genug bin, um durch die Tür zu schlüpfen.«

»Setz dich hin, so lang du willst«, antwortete der Türhüter lächelnd.

Ged entfernte sich ein paar Schritte und setzte sich unter eine Erle am Thwilbach. Er ließ seinen Otak im Wasser planschen und im Schlamm des Ufers nach Flußkrebsen jagen. Die Sonne strahlte hell und ging spät unter, denn der Frühling war schon weit fortgeschritten. Laternen und Werlichter brannten hinter den Fenstern des Großhauses, unten am Berg füllten sich die Straßen von Thwil mit Dunkelheit. Eulen stießen ihre heiseren Schreie über den Dächern aus. Fledermäuse flitzten über den Fluß, und noch immer saß Ged da und zerbrach sich den Kopf, wie er den Namen des Türhüters herausfinden könne. Er erwog Gewalt, List und Zauberei. Aber je länger er grübelte, desto sicherer wurde er, daß es unter all den Künsten, die er in den vergangenen fünf Jahren auf Rok gelernt hatte, keine gab, die einem so mächtigen Magier solch ein Geheimnis entreißen konnte.

Er streckte sich auf der Wiese aus und schlief unter den Sternen ein, während der Otak es sich in seiner Tasche gemütlich machte. Nach Sonnenaufgang, immer noch fastend, ging er zur Tür des Hauses und klopfte an. Der Türhüter öffnete.

»Meister«, sagte Ged, »ich kann Ihren Namen nicht mit Gewalt herausfinden, denn ich bin zu schwach dazu, ich kann ihn auch nicht mit Zauberei herausfinden, denn ich bin nicht weise genug. Ich bin daher gewillt, hierzubleiben, um zu lernen oder Ihnen zu dienen, wie Sie wünschen; außer Sie sind bereit, mir eine Frage zu beantworten.«

»Frage!«

»Meister, wie heißen Sie?«

Der Türhüter lächelte und nannte seinen Namen, und ihn wiederholend betrat Ged zum letzten Mal das Großhaus.

Als er es verließ, trug er einen schweren, dunkelblauen Umhang, die Gabe des Stadtkreises von Untertorning, seines Reiseziels, denn dort brauchte man einen Zauberer. In der Hand hielt er einen bronzebeschlagenen Stab aus Eibenholz, so groß wie er selbst. Der Türhüter bot ihm den Abschiedsgruß und öffnete die Hintertür des Großhauses für ihn. Es war die Tür aus poliertem Horn und Elfenbein, und Ged schritt die Straße von Thwil hinunter zu dem Schiff, das in der hellen Morgensonne im Hafen auf ihn wartete.

DER DRACHE VON PENDOR

Westlich von Rok, zwischen Holsk und Ensmer, den zwei großen Ländern, liegen die Neunzig Inseln. Von Rok kommend, stößt man zuerst auf Serd, während Seppisch, am weitesten von Rok entfernt, fast schon im peinischen Meer liegt. Ob es wirklich neunzig Inseln sind, blieb bis heute eine Streitfrage. Zählt man nur die Inseln mit Süßwasserquellen, dann kommt man nur auf siebzig; zählt man aber jeden Fels, der übers Wasser ragt, dann kommt man auf weit über hundert. Rechnet man mit der Ebbe und Flut, dann ändert sich die Zahl wiederum, denn schmal sind die Wasserstraßen zwischen den Inseln, und der Gezeitenwechsel, der sich im Innenmeer nur schwach auswirkt, ist hier draußen viel ungezügelter und mächtiger, so daß es Stellen gibt, wo bei Flut drei Inseln liegen, während bei Ebbe eine große Insel sichtbar wird. Aber trotz all der Gefahren, die der Gezeitenwechsel in sich birgt, hat jedes Kind, das Laufen kann, sein eigenes kleines Ruderboot. Hausfrauen paddeln zur Nachbarin auf der anderen Insel, um eine Tasse Kräutertee mit ihr zu trinken, und Hausierer preisen ihre Ware im Rhythmus des Ruderschlags an. Alle Straßen dort bestehen aus Salzwasser, und ab und zu wird die Durchfahrt von Netzen blockiert, die von Haus zu Haus gespannt sind, um die kleinen Fische, die sie Turbies nennen, zu fangen. Das aus den Turbies gewonnene Öl stellt den Reichtum der Neunzig Inseln dar. Brücken gibt es wenige und große Städte überhaupt nicht. Auf jeder Insel drängen sich Bauernhäuser und Häuser, die den Fischern gehören. Zehn bis zwanzig Inseln sind jeweils zu Inselkreisstädten zusammengeschlossen. Unter diesen ist Untertorning die westlichste. Von dort aus sieht man nicht das Innenmeer, sondern den weiten Ozean, den einsamsten Teil des Inselreiches, in dem nur Pendor, die Dracheninsel, liegt; und dahinter erstreckt sich das endlose, öde Meer des Westens.