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Im Spätherbst wurde der kleine Sohn des Schiffsbauers krank. Die Mutter ließ das Zauberweib von der Insel Task kommen, das ziemlich erfolgreich war im Heilen von Krankheiten. Ein oder zwei Tage lang schien auch alles gut zu gehen. Dann aber, mitten in einer stürmischen Nacht, klopfte Peckvarry heftig an Geds Tür und flehte ihn an, zu kommen und das Kind zu retten. Ged rannte mit ihm hinunter zum Boot, und sie ruderten mit Windeseile durch die Finsternis und den Regen zum Haus des Schiffsbauers. Dort sah Ged das Kind auf seiner Strohmatratze liegen und die Mutter schweigend neben ihm kauern, während das Zauberweib im Rauch der Korlywurzel den magischen Gesang angestimmt hatte, was wahrscheinlich ihr stärkster Heilzauber war. Sie flüsterte Ged zu: »Mein Herr, ich glaube, er hat Rotfieber und wird diese Nacht nicht mehr überstehen.«

Als Ged sich neben das Kind kniete und es mit seinen Händen berührte, durchfuhr ihn der gleiche Gedanke, und er schreckte zurück. Während der letzten Monate in der Heilklinik hatte ihn der Kräutermeister viel Heilkunde gelehrt, aber nie hatte er versäumt, ihm zu Beginn und Ende jeder Unterweisung einzuschärfen: Heile die Wunde, mache den Kranken wieder gesund, aber versuche nie, den Geist eines Sterbenden zurückzuhalten.

Die Mutter hatte seine Bewegung wahrgenommen und ihre Bedeutung erkannt. Sie schrie auf voll Verzweiflung. Peckvarry beugte sich über sie und versuchte, sie zu beruhigen: »Frau, unser Herr Sperber wird ihm helfen. Weine nicht mehr! Hier steht er ja. Er wird es schaffen.«

Ged sah die Tränen der Mutter und hörte das Vertrauen, das in Peckvarrys Worten lag. Er brachte es nicht über sich, sie zu enttäuschen. Vielleicht hatte er sich geirrt, vielleicht konnte das Kind gerettet werden, er mußte versuchen, das Fieber herunterzubekommen. Er sagte: »Ich will alles versuchen, Peckvarry!«

Ged begann den kleinen Joheth in frischem, kaltem Regenwasser, das sie draußen aufgefangen hatten, zu baden, dann versuchte er, das Fieber durch einen Zauberspruch aufzuhalten und zu lindern. Der Spruch schlug nicht an und schloß sich nicht zu einem Ganzen, plötzlich war es ihm, als stürbe das Kind in seinen Armen.

Ohne Rücksicht auf sich selbst sammelte er seine ganze Macht und sandte seinen Geist dem enteilenden Geist des Kindes nach, um ihn zurückzuholen. Er rief den Namen des Kindes: »Joheth!« Sein inneres Gehör glaubte eine schwache Antwort zu vernehmen, und er folgte ihr, noch einmal seinen Namen rufend. Plötzlich konnte er den Knaben sehen, der ihm weit voraus war und einen dunklen, weiten Abhang hinunterrannte. Kein Laut war vernehmbar. Die Sterne über dem Hügel waren seinen Augen unbekannt, doch er kannte die Namen der Sternbilder: die Garbe, die Tür, der Sich-Drehende, der Baum. Er erblickte die Sterne, die nie untergehen und nie vor dem Kommen eines neuen Tages verblassen. Er erkannte, daß er dem Kind zu weit gefolgt war. Plötzlich stand er allein und einsam an dem dunklen Abhang. Schwer war es, zurückzugehen, sehr schwer.

Langsam drehte er sich um. Mühsam setzte er einen Fuß vor den andern und bewegte sich den Berg hinan. Schritt folgte Schritt, jede Bewegung war eine Willensanstrengung, und mit jedem Schritt wurde es schwerer.

Die Sterne standen regungslos. Kein Wind wehte über den trockenen, steilen Grund des Abhangs. In dem weiten Reich der Finsternis war er das einzige, das sich bewegte, langsam, mühselig. Er erreichte den Kamm des Hügels und erblickte eine niedrige, aus Steinen errichtete Mauer. Auf der anderen Seite, ihm zugewandt, stand ein Schatten.

Der Schatten besaß weder menschliche noch tierische Gestalt. Er war formlos, kaum wahrnehmbar, und er flüsterte ihm zu, aber keine Worte waren zu vernehmen. Er streckte sich nach ihm aus und er stand auf der Seite der Lebenden, während Ged auf der Seite der Toten stand.

Ged mußte sich entscheiden. Er konnte den Hügel hinuntergehen in die unfruchtbaren Gefilde und düsteren Städte der Toten oder über die niedere Mauer zurück ins Leben steigen, wo das unförmige, ungeheuerliche Unding auf ihn wartete.

Der Zauberstab lag schwer in seiner Hand, und er hob ihn hoch. Diese Bewegung brachte Stärke zurück in seine Glieder. Als er sich zusammenraffte, um über die niedere Mauer auf den Schatten zuzuspringen, glühte der Stab plötzlich weiß auf, eine blendende Helle an diesem schattenhaften Ort. Er setzte zum Sprung an, fühlte wie er hinfiel, und seine Sinne schwanden ihm.

Vor Peckvarry, seiner Frau und dem Zauberweib spielte sich folgendes ab: Der junge Zauberer hörte mitten im Zauberspruch zu reden auf und hielt das Kind in seinen Armen, ohne sich zu bewegen. Dann legte er Joheth sachte auf seine Matratze zurück, richtete sich hoch auf und stand schweigend, den Stab in der Hand haltend. Plötzlich hob er den Stab in die Höhe, der in weißem Feuer leuchtete, so daß es schien, als halte er den Blitz in seiner geballten Faust. Die Gegenstände in der Hütte sprangen in diesem momentanen, grellen Licht seltsam eindringlich ins Auge. Vorübergehend geblendet, dauerte es eine kurze Weile, bis sie wieder sehen konnten, dann aber erblickten sie den jungen Mann, der vornüber gefallen auf dem Boden lag, neben der Matratze, auf der das tote Kind lag.

Peckvarry schien es, als sei der Zauberer ebenfalls tot. Seine Frau heulte, er selbst war ganz verstört. Aber das Zauberweib hatte eine Ahnung von Magie und wußte etwas vom Hinscheiden eines wahren Zauberers. Sie veranlaßte, daß Ged, der kalt und reglos dalag, nicht wie ein Toter behandelt wurde, sondern wie ein Kranker oder wie einer, der sich in einem Trancezustand befindet. Er wurde nach Hause getragen, und eine alte Frau wurde zu ihm gesetzt, die darauf achten mußte, ob er aus dem Schlaf erwachen würde oder nicht.

Der kleine Otak hatte sich in den Dachbalken des Hauses versteckt, was er immer tat, wenn Fremde eintraten. Dort oben hockte er, während draußen der Regen gegen die Hauswände schlug und drinnen das Feuer langsam erlosch. In den Morgenstunden nickte die alte Frau neben der Feuerstelle ein. Dann kletterte der Otak herunter und rannte lautlos zu Ged, der steif und still auf seinem Bett lag. Er fing an, ihm geduldig und ohne Unterlaß Hände und Handgelenke mit seiner trockenen, braunen Zunge zu lecken, und sich neben Geds Kopf hinkauernd, begann er seine Schläfen, seine vernarbte Wange und ganz sachte seine geschlossenen Augen zu lecken.

Und ganz allmählich, unter der leichten Berührung, regte sich Ged. Er wachte auf und wußte nicht, wo er gewesen war und wo er sich befand. Er sah ein schwaches Licht und ahnte nicht, daß es einen neuen Tag verkündete. Der Otak beobachtete Ged, rollte sich darauf an seiner Schulter zusammen, wie er es immer tat, und schlief friedlich ein.

Später, als Ged über die Ereignisse dieser Nacht nachdachte, wurde ihm bewußt, daß er nicht mehr unter den Lebenden weilen würde, wenn ihn nicht jemand berührt und auf irgendeine Weise zurückgerufen hätte, als er, von den Lebensgeistern verlassen, auf seinem Lager gelegen hatte. Nur das blinde, instinktive Wissen eines Tieres, das seinen verletzten Gefährten leckt, um ihm Erleichterung zu verschaffen, hatte ihn zurückgerufen, und Ged spürte in diesem Wissen etwas, das seiner eigenen Macht ähnlich war, etwas, das so tief reichte wie die Zauberkunst. Und seither war er überzeugt, daß der Weise sich nie von anderen lebenden Wesen absondert, ganz gleich, ob sie reden können oder nicht, und in späteren Jahren bemühte er sich oft darum, das zu lernen, was in der Stille von den Augen der Tiere, vom Flug der Vögel und von der langsamen majestätischen Bewegung der Bäume gelernt werden kann. Zum ersten Mal hatte er die Welt der Lebenden verlassen und war unverletzt aus dem Land zurückgekehrt, das nur ein Zauberer mit offenen Augen betreten, was aber selbst der größte Magier nie ohne Gefahr unternehmen kann. Wohl war er unversehrt, aber Trauer und Furcht erwarteten ihn. Trauer erfüllte ihn für seinen Freund Peckvarry und den Verlust, den er erlitten hatte, Furcht hatte er um sich selbst. Jetzt wußte er, warum der Erzmagier ihn nicht wegschicken wollte und warum seine Zukunft dunkel und bewölkt vor den Augen des Magiers gelegen hatte. Die Dunkelheit selbst war es, die auf ihn gewartet hatte, dieses namenlose Ding, dieses Wesen, das nicht von dieser Welt stammte, dieser Schatten, den er freigesetzt oder geschaffen hatte. Als Geist hatte es auf ihn während all der Jahre gewartet, dort, an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Und dort endlich hatte es ihn gefunden. Jetzt würde es sich an seine Fersen heften, jetzt würde es versuchen, ihn an sich zu ziehen, um ihm seine Stärke zu entwenden und sein Leben auszusaugen und sich mit seiner Gestalt zu umgeben.